Willkommen beim Projekt „VielLeben“. Ich stelle hier seit kurzem, in unregelmäßigen Abständen, Portraits von Männern und Frauen jenseits der 50 vor. Alle portraitierten Personen beantworten dieselben sieben Fragen und schicken mir drei Fotos von sich, eines aus der Kindheit, eines aus dem frühen Erwachsenenleben und eines von heute.
Es freut mich heute das zweite Portrait dieser Serie online stellen zu dürfen und bedanke mich schon jetzt fürs mitmachen!
Elsbeth Rütten
Geboren am 25. Mai 1948 (vier Wochen später, am 20. Juni 1948, startete die Währungsreform) in Aachen (die erste von den Alliierten befreite Stadt). Zum Zeitpunkt des Portraits ist Elsbeth Rütten 67 Jahre alt und lebt in Bremen.
Eine spontane Geschichte aus Ihrer Kindheit:
Das Wirtschaftswunder boomt – auch in der Eifel. Wenn ich gegen den Willen meiner Eltern und Großeltern das Grundstück verlasse, fühle ich mich frei und „grenzenlos“. Mit Leidenschaft streune ich durch den Wald, der das Dorf auf allen Seiten begrenzt. Die Grenzen sind nah. Die Niederlande, Belgien, Luxemburg liegen nur einen Steinwurf weit entfernt. Die Zeiten des Nazideutschlands scheinen weit zurückzuliegen. Nur der Westwall reckt seine Panzersperren in die diesige Eifelluft der Nachkriegszeit.
Die Streifzüge durch den Wald fördern neben Heidelbeeren, Steinpilzen und Pfifferlingen manchmal Tellerminen, Eierhandgranaten, Munition und verrostete Schusswaffen zutage. In jenen Tagen sieht man häufig Menschen mit amputierten Gliedmaßen auf den Straßen. Als der kleine Ort am 12. September 1944 wider Willen vom Faschismus befreit wird, wird der Ort ein Teil des sogenannten „Stolberg-Korridors“, jener Passage in Nazi-Deutschland, über die die Alliierten die Befreiung von Nazideutschland organisierten
Bis zu jenem Septembertag gehört der Ort zu den wenigen Hochburgen des Nationalsozialismus in der Region.
Während die eine Hälfte der Dorfbewohner voller Angst in die Wälder flüchtet, packen die Übrigen ihre Habseligkeiten und flüchten gen Osten.
In fast jeder Familie sind Trauer und Tod zuhause. Die Trauer verschließt man in den Herzen – die Namen der Gefallenen meißelt man in Stein.
Karfreitag 1947 ist es so weit. Oberhalb des Dorfes wird Kriegerdenkmal Nummer drei eingeweiht. Ganz in der Terminologie der Vergangenheit, wird es den „Gefallenen Helden“ gewidmet. Zwei sinnlose Weltkriege haben den Ort um drei wuchtige steinerne Dokumente bereichert.
Als man im Jahr 1952 die SS-Parole „Unsere Ehre heißt Treue“ in das Ensemble aufnimmt, spielt die Dorfkapelle das Lied vom „Guten Kameraden“. Später intoniert der Kirchenchor Beethovens „Opferlied“. Das Ereignis geht als „Denkmal in Flammen“ in meine Kindheitserinnerungen ein. Im Lauf der Jahre werden die zerschossenen Bunker durch schicke Siedlungen mit kleinen Einfamilienhäusern ersetzt. Kurz darauf ziehen Flüchtlinge aus dem Osten dort ein. Deutschland gewinnt 1954 die Fußball-Weltmeisterschaft und als ein Jahr später wieder Panzer durch den Ort rollen, um an einem Herbstmanöver teilzunehmen, scheint alles wieder seine „Ordnung“ gefunden zu haben.
Der bleierne Mantel des Vergessens wird sorgsam festgezurrt – seltsam unvereinbar und dennoch ganz selbstverständlich.
60 Jahre später – Aus dem kleinen Mädchen ist längst eine Frau mit Lebenserfahrung geworden. So wie damals streift sie über die Höhen des Dorfes. Inzwischen sucht sie nach Spuren der Vergangenheit – in ihrer Familie. Längst ist die Geschichte des jährlichen Feuerrituals vom Vergessen umhüllt.
Belanglos streift der Blick das Kreuz und die steinernen, stummen Zeugen des ehemals „Flammenden Denkmals“. Und plötzlich lüftet sich der Schleier der Geschichte für einen winzigen Moment. Frischer Kies, gepflegte Blumenrabatten, frische gemalte Buchstaben und in goldenen Lettern „Unsere Ehre heißt Treue“. Es ist, als sei die Zeit stehen geblieben. Und hier beginnt dann wieder eine neue Geschichte.
Die Wiesen wiegen sich noch immer im Takt, durchsetzt von einem Meer aus Wiesenschaumkraut. Die Wälder rauschen wie eh und eh.
„Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.
Von dort kommt nachts ein Wind im Wolkenwagen
und irgendwer steht auf da hier…
Den will er über die Kastanien tragen:
„Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir!
Erst jenseits der Kastanien ist die Welt…“
Paul Celan
Gibt es ein Musikstück, dass Ihnen zu Ihrer Kindheit und Jugendzeit einfällt?
Ja, spontan denke ich an: ´Geh aus mein Herz und suche Freud‘. Diesen Choral hat mein Großvater oft auf der Orgel gespielt. Sonntags, wenn er mich mitnahm in die Kirche und auf die Orgel.
Wenn Sie an Ihre Jugendzeit denken, mit welchen 5 Begriffen würden Sie diese skizzieren?
Widerspruch, Fantasie, Ambivalenz, Protest, Sehnsucht.
Stellen Sie sich Ihr Leben als Reise vor. Gings immer geradeaus oder sind Sie häufig umgestiegen? Was waren die wichtigsten Stationen auf Ihrer bisherigen Reise?
Es waren immer wieder wichtige, manchmal sogar schmerzlich / markante Weichen, die gestellt wurden. Der Weggang aus dem Elternhaus. Meine Jahre des Protestes. Die Geburt meines Sohnes Frank. Meine Ausbildung zur Krankenschwester. Meine beiden Ehen. Meine Bildung über den zweiten Bildungsweg.
Wenn Sie so Ihr Leben betrachten: Was trägt Sie im Leben? Was macht Sie aus?
Eine tiefe Verbundenheit mit der Welt und eine Kraft, die größer ist als ich. Meine Freiheit und Selbstbestimmtheit, der Wunsch, diese Welt mit meinen bescheidenen Möglichkeiten mitzugestalten. Meine Neugier auf das Leben und meine wache Entdeckungslust.
Welche Erkenntnisse von heute hätten Sie gerne schon früher gehabt? Was wäre dann vielleicht anders gewesen, anders gelaufen?
Ich hätte mir gerne bereits früher mehr Offenheit, Klarheit, Reife und selbstbewusste Nachdenklichkeit gewünscht.
Wenn Sie mit Ihrer Erfahrung heute Ihrem 20-jährigen ICH von damals etwas vom Leben erzählen könnten, was würden Sie ihm mitteilen?
Nimm Dir mehr Zeit und traue der Kraft, die in Dir steckt. Gehe, wohin Dich Dein Herz trägt. Du siehst nur mit dem Herzen gut. Lerne zwischen den Zeilen zu lesen und auf Dich zu vertrauen.
Wo auf Ihrer Lebensreise befinden Sie sich gerade und wie geht die Reise weiter? Welche Pläne haben Sie? Was wollen Sie noch erleben/ tun/ erledigen?
Inzwischen bin ich 67 Jahre alt. Heute ist man damit weder jung noch alt. Es gilt, eine neue Lebenszeit zu erkunden. Die letzten einhundert Jahre haben uns durchschnittlich ca. 30 weitere Lebensjahre beschert. Es gilt, diese mit Erfahrungen und Erlebnissen zu füllen. Meine Arbeit als Vorsitzende im Verein Ambulante Versorgungsbrücken e. V., den ich vor sechs Jahren initiierte, gibt mir die wunderbare Gelegenheit, neue Weichen mitzugestalten und nicht nur etwas für andere zu tun, sondern auch mich dabei nicht aus den Augen zu verlieren.
Mein Motto lautet: „Geh, wohin Dein Herz, der Dialog der Generationen und Deine Gesundheit Dich tragen!“ Mit so viel Engagement wie möglich – so viel Profession wie nötig!
Herta Bacher meint
Hallo Sonja, deine Initiative zu dieser Serie find ich wieder ganz toll.
Die Antworten auf die Fragen an Elsbeth Rütten könnten von VIELEN Frauen ihrer Generation stammen, auch von mir.
(Die Fragestellungen selbst sind ungewöhnlich und wert, für sich selber beantwortet zu werden!)
Bravo, danke und bitte weiter machen.
LG von Herta B., Graz
Sonja Schiff meint
Danke! Freut mich, dass es Dir die Serie gefällt.
Hab Dir ein Mail geschrieben, liebe Herta :-)
Wie wäre es mit einem Portrait von Dir?? :-D
Monika Krampl meint
Liebe Elsbeth Rütten,
danke für das Gedicht von Celan. Ich kannte es nicht und habe es in meinen Gedicht-Schatz aufgenommen.
Danke auch für die sehr berührende und poetische Geschichte aus der Kindheit. Ich liebe es, in fremede Lebensgeschichten einzutauchen, die dann nicht mehr fremd bleiben – findet man sich selbst doch in Vielem wieder …
In Anlehnung an Ihre Wort: Inzwischen bin ich 65 Jahre alt. Heute ist man damit weder jung noch alt.
Und – eine zusätzlich geschenkte Lebenszeit, die uns die Chance gibt, neue Weichen mitzugestalten, mit unserer Lebenserfahrung und unserem erfahrenem Wissen (im Unterschied zu theoretischem Wissen).
Mögen wir noch viel in Bewegung bringen …
Herzlichst Monika Krampl
Elsbeth Ruetten meint
Liebe Monika Krampl, liebe Herta Bacher, liebe Sonja,
herzlichen Dank für euer konstruktives und offenes Feedback. Soviel positve Resonanz habe ich nicht erwartet. Ja, die 50er/60er Jahre stellen in meiner Erinnerung eine seltsam angespannte, irritierende und unverbunden wirkende Dynamik dar. Nicht wissen wollen, dürfen oder können, Schuld und Scham und gleichzeitig der überall spürbare Aufbruch. Die leidenschaftliche Sehnsucht nach Leben, nach Modernität, die sich hinter dem Ringen um das Vergessen verbirgt.
Wir wuchsen auf zwischen Schnulzen und Rock, zwischen „Weißes Rössel am Wolfgangsee“ und der „Roten Armee-Fraktion“. Meine Lebensbegleiter waren Persönlichkeiten wie Fassbinder und Günter Walraff, Grass, Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Widerspruch, widersprechend wurde im Laufe der Jahre die Geschichte des Holocaust der Verdränung entrissen. Zwischen dem Mord an Rosemarie Nitribitt, dem Kniefall von Willy Brandt und der Sehnsucht nach mehr Demokratie entwickelt sich die unfertige Patina der Lebenserfahrung und der tiefen Gewissheit, dass es jetzt an der Zeit ist, miteinander zu teilen. Sonjas Blog bietet eine wunderbare Chance. Herzlichst, Elsbeth aus Bremen.
rochus gratzfeld meint
Liebe Elsbeth, ein wunderbarer Beitrag. Knapp 10 Jahre trennen den Jüngeren von dir. Und doch. Das Gemeinsame im historischen Kontext ist weit grösser, als das Trennende einer Dekade. Ein aufgelassener Bunker in RUHRheimat war mein Lieblingsspielplatz. Da gab es Patronenhülsen zu finden. Und der kalte Schauer der Kriegserzählungen meines Vaters kroch angenehm über den Körper. Später wandelte sich der Schauer der knabenhaften Abenteuerlust in den Ekel gegen die Generation meiner Eltern. Gegen Faschismus. Für Freiheit und Amerika. Nun. Diesbezüglich hat die Realität sich auch als Korrektiv erwiesen. Jedenfalls. Jedenfalls fühle ich mich jung. Gerade am Morgen, wenn die Knochen schmerzen. Wenn das Gehabte seinen Tribut fordert und doch die Hoffnung obsiegt. Ja. Dann gibt es kraftvolle Begegnungen. Mit Alten. Ich meine wirklich Alten, die jünger geblieben sind, als wirklich JUNGE es je waren. Jedenfalls mach weiter so. Ich ziehe meine Lederjacke an und rocke. Herzliche Grüße unbekannterweise, Rochus.
Elsbeth Ruetten meint
Lieber Rochus, herzlichen Dank für Deine offenen Zeilen! In der Tat scheint die nackte Zahl der Lebensjahre nur von recht begrenztem Wert. Die „Gnade der späten Geburt“ hat für unsere Generation andere Herausforderungen bereit gehalten. http://de.wikipedia.org/wiki/Gnade_der_sp%C3%A4ten_Geburt
(Bis heute bleibt das Zitat von Helmut Kohl umstritten.)
Haben wir unsere Chancen genutzt?;-) Ich bin mir nicht sicher. Herzlichst Elsbeth aus Bremen