Es gibt Bücher, die laufen dir unvermutet über den Weg und lassen dich staunend zurück.
Vor etwa einem Jahr war ich auf einem Bücherflohmarkt. Ich liebe es in Bücherkisten zu stöbern. Ich liebe den Geruch von alten Büchern, liebe es die Seiten alter Bücher durch meine Finger laufen zu lassen, mag es Anmerkungen am Seitenrand zu entdecken und darüber zu rätseln, warum bestimmte Textstellen für die vorige LeserIn wichtig waren. Ich freue mich Raritäten zu entdecken oder Bücher, die sich für mich erst später zu einem besonderen Buch mausern.
Der erste Blick auf mein gerade gelesenes Buch war unspektakulär. Das Deckblatt ohne besonderen Wow-Effekt. Fast unscheinbar. Der Titel: Fluchtstücke. Die Autorin: Anne Michaels. Noch nie von ihr gehört.
Dann der Klappentext:
Der siebenjährige Jakob Beer, der einzige Überlebende einer jüdischen Familie, irrt 1942 allein in den polnischen Wäldern herum und versteckt sich schließlich in einer Ausgrabungsstätte. Dort findet ihn ein griechischer Archäologe, der ihn nach Griechenland schmuggelt. Als er später in Kanada Michaela begegnet, wird die Liebe für ihn das einzige, was der Mensch gegen die Gleichgültigkeit der Geschichte stellen kann.
Klang interessant. Also habe ich das Buch zum Stoß bereits ausgewählter Buch dazu gelegt. Achtlos. Danach lag es monatelang herum. Mehrmals hatte ich es in der Hand und legte es wieder zur Seite. Vorige Woche dann habe ich begonnen es zu lesen und konnte es, zu meiner Überraschung, kaum mehr aus der Hand legen. Heute gehört dieses Buch zu den besten Büchern, die ich je gelesen habe. Es hat mich gefesselt, innerlich aufgewühlt, fasziniert und betroffen gemacht. Was für eine Geschichte! Was für eine Sprache! Einfach genial!
Der erste Absatz:
Während des zweiten Weltkriegs gingen zahllose Manuskripte – Tagebücher, Memoiren, Augenzeugenberichte – verloren, oder wurden zerstört. Einige dieser Erzählungen wurden von jenen, die nicht überlebten, versteckt – in Gärten vergraben, in Hohlräumen von Wänden gesteckt oder unter Bodendielen gelegt – und nie wieder gefunden.
Zum Inhalt:
Jakob, 7 Jahre alt, sitzt in seinem Versteck, einem Kasten, als plötzlich fremde Männer die elterliche Wohnung stürmen und alles zusammenstürzt. Nach einiger Zeit entsteigt Jakob unter Schock seinem Kasten und findet Mutter und Vater tot am Boden liegen. Verstört läuft er aus dem Haus, in den nahen Wald und von dort immer tiefer und tiefer. Er gräbt sich morgens Löcher in den Boden, um tagsüber gewärmt von der Erde Schlaf zu finden, abends und nachts läuft er weiter, immer weiter um sein Leben. Als er in der Nähe einer Ausgrabungsstätte versucht Schlaf zu finden, entdeckt ihn Athos, ein griechischer Archäologe. Unter Lebensgefahr bringt Athos den kleinen Jakob in seine Heimat Griechenland und kümmert sich liebevoll um den Jungen. Auf der Insel Zakynthos, in einem kleinen Steinhaus am Hügel über dem Hauptort, überleben Jakob und Athos den Krieg, die deutsche Besetzung Griechenlands, den Mangel an allem und den Hunger. In Jakobs Gedanken und Träumen immer dabei, die Erinnerung an die Eltern und deren Tod, die Frage nach Bella, seiner Schwester, von der jede Spur fehlt. Jakob verbringt hier, versteckt vor der Welt, seine Kindheit und Jugend und wird von Athos versorgt und genährt mit Wissen. Er erzählt ihm alles, was er vom Himmel, der Erde, von der Liebe, der Dichtkunst, der Geologie, vom Leben und von zwischenmenschlichen Beziehungen weiß.
Nach dem Krieg wandern Athos und Jakob nach Kanada aus. Athos gilt als angesehener Wissenschaftler, er wird in Toronto erwartet, und so bauen sich die beiden ein neues Leben auf. Jakob, er wird Dichter, kämpft weiterhin mit seinen Kindheitserinnerungen, er versucht sie zu verdrängen, wird aber immer wieder von ihnen eingeholt. Seine erste Ehe wird geschieden, auch sie scheitert an der Vergangenheit, die er nicht loslassen kann. Dann begegnet er Michaela, einer wesentlich jüngeren Frau, und erst bei ihr findet er Heilung und Versöhnung.
Zur Autorin:
Anne Michaels ist 1958 in Toronto geboren und wurde zuerst bekannt als Lyrikerin. Für ihre lyrischen Werke erhielt sie viele Auszeichnungen, unter anderen 1986 den Commonwealth Poetry Prize for the Americas. Fluchtstücke war ihr erster Roman. Er wurde in 30 Sprachen übersetzt und war weltweit ein großer Erfolg.
Meine Gedanken zum Buch:
Das Buch Fluchtstücke erzählt mit viel Herzenswärme von der Geschichte einer Freundschaft und von der Macht der Liebe. Es erzählt aber auch, stellvertretend an der Figur Jakob und eines ihn verehrenden jüngeren Mannes, die Geschichte jener Juden, über Generationen hinweg, die den Holocaust überlebt haben.
Die Sprache der Autorin ist poetisch, bilderreich und erzählerisch dicht, sodass man sich dem Buch kaum entziehen kann. Mit sprachlicher Präzision erzählt Michaels vom Grauen der Judenverfolgung, von der Unmenschlichkeit und vom Sadismus der Menschen dieses Systems. Sie nennt Geschehenes beim Namen und findet Worte dafür, wie sich Erinnerungen unausgesprochen einweben, auch in die Seele nachfolgender Generationen.
Ich konnte beim Lesen manche Schilderungen fast nicht fassen und auch kaum ertragen. Mir wurde klar, wie wenig ich eigentlich im Detail bis jetzt darüber nachgedacht habe, was da passierte in der Nazizeit. Selbstverständlich weiß ich um die millionenfachen Morde und auch darüber auf welche Art gemordet wurde. Aber Michaels schildert Details, die mir den Atem stocken ließen, weil ich plötzlich wahrnahm, worüber ich noch nie nachgedacht hatte.
Das Grauen in diesem Buch war für mich als Leserin nur zu ertragen, weil das Buch auch so viel Hoffnung in sich trägt und viele Figuren, die diese Hoffnung nähren. Die Liebe des Archäologen Athos zu dem kleinen Jakob, seine Leidenschaft für Geologie und Bücher, die griechischen und kanadischen Freunde der beiden und die Frauen des Buches, Michaela und Noemi, die es verstehen, die Zukunft mit der Vergangenheit zu verbinden, die trösten und heilen.
Anna Michaels Buch, erschienen 1996 auf Englisch und 1999 auf Deutsch, ist aktueller denn je. Prädikat: Außerordentlich empfehlenswert.
Fluchtstücke
Anne Michaels, 1999, 317 Seiten
Rochus Gratzfeld meint
Ich werde dieses Buch lesen.