31. Oktober. Die Nacht der Ahninnen und Ahnen. Ich gedenke heute meiner beiden Großmütter. Der Mutter meines Vaters bei der ich als Kind viel Zeit verbracht habe. Und der Mutter meiner Mutter, meiner „verstoßenen“ Großmutter. Warum sie meine „verstoßene“ Großmutter ist und wie ich zu ihr fand, erzähle ich Dir in diesem Beitrag.
Kürzlich habe ich einen großartigen Artikel zum Thema Epigenetik gelesen. Ein paar Sätze daraus:
„Das Genom jedes Kindes enthält Merkmale, die noch aus der Zeit vor der Geburt oder während der Schwangerschaft stammen, also Wochen, Monate oder sogar Jahrzehnte zurückliegen können. Das sind die bereits genannten ein Prozent des Genoms, die je nach Lage unterschiedlich wichtig sein können.“
„Im Mutterleib, wenn der Embryo langsam wächst, beeinflussen Umweltfaktoren drei Generationen gleichzeitig: Die Mutter, den Embryo und die Keimzellen des Embryos. Genau gesagt heißt das: Selbst wir weisen wohl noch Merkmale auf, die auf Umwelteinflüsse zurückzuführen sind, als unsere Mutter noch als Embryo im Bauch unserer Oma heranwuchs.“
Warum ich Euch das erzähle?
Heute ist der 31. Oktober. Was wir an diesem Tag bzw. Abend mit einem lustigen Halloweenfest abtun, ist eigentlich vom Ursprung her die Nacht unserer Ahninnen und Ahnen.
Vor genau einem Jahr habe ich anlässlich dieses Tages bei einem sehr berührenden matriarchalen Ahninnen-Ritual von Wildmohnfrau mitgemacht und mich dabei das erste Mal wirklich mit den Ahninnen meiner Mutterlinie auseinandergesetzt. Bis dahin war in meinem Leben vor allem meine Großmutter väterlicherseits präsent. Bei ihr bin ich teilweise aufgewachsen bzw. war ich viel bei ihr in meiner Kindheit.
Die Großmutter meiner Mutter dagegen (und damit auch meine Ahninnen der Mutterlinie) war abgewertet, hatte einen schlechten Ruf und ich hab diese Großmutter, bis auf ein kurzes Aufeinandertreffen von dem ich später erzählen werde, nie gesehen. Wie das kam? Meine Mutter ist bei Pflegeeltern aufgewachsen, bei sadistischen Bergbauern im Salzburgerischen Gasteiner-Tal, die ihre weiblichen Pflegekinder schwerst arbeiten ließen, ausbeuteten und quälten, während sie den männlichen Pflegesohn (den Bruder meiner Mutter) wie ein Prinzen behandelten.
Ich bin aufgewachsen mit folgender, immer wieder erzählten Familien-Geschichte: Meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter, war stinkfaul und kümmerte sich nicht um ihre Kinder, weshalb sie von der Fürsorge abgeholt und als Pflegekinder zu den Bergbauern gebracht wurden. Der Großvater dagegen hätte das nicht gewollt und um die Kinder gekämpft.
Heute weiß ich, die Geschichte war viel komplizierter. Meine Großmutter war mit einem sehr viel älteren, trinkenden und nicht mehr allzu gesunden Mann verheiratet. Sie war außerdem psychisch krank (mehrmals Patientin in einer Psychiatrie) und völlig überfordert mit ihren beiden Kindern. Wohl deshalb auch fand man die Kinder wiederholt schwer verwahrlost vor und hat man ihr die Kinder schlussendlich weggenommen.
Meine Mutter würde jetzt sicher sofort Einspruch erheben, ihre Wahrheit ist die andere, die von der faulen Mutter. Aber als psychiatrische Pflegefachkraft weiß ich, dass jeder Mensch seine Lebensgeschichte selbst konstruiert. Und eine verletzte Kinderseele, wie meine Mutter es war, muss um zu überleben, eine Geschichte konstruieren, wo es eben eine böse Person gibt (die Mutter), aber auch wenigstens eine gute, sich kümmernde und liebende Person (der Vater).
Deshalb verstehe ich meine Mutter und ihre Geschichte. Aber ihre „Story“ über meine Großmutter muss nicht meine Geschichte sein. Das habe ich letztes Jahr erfahren bei diesem Ahninnen-Ritual. Denn plötzlich, ohne dass ich das geplant hätte, war meine „verstoßene“ Großmutter bei den Ritual präsent und bei mir.
Noch nie in meinem Leben habe ich mich mit ihr beschäftigt oder über sie nachgedacht. Nur einmal in meinem Leben ist sie mir begegnet. Zufällig. In einer Fleischhauerei bei ihr ums Eck. Ich war etwa 27 Jahre alt, hatte als Hauskrankenschwester eine Patientin in ihrer Siedlung und machte grad eine Pause. Deshalb betrat ich eine Fleischerei, um mir eine Wurstsemmel zu kaufen. Sie stand an der Theke und redete mit der Verkäuferin. Ich erkannte sie sofort: Ich vernahm die Stimme meiner Mutter, ich sah die Gesichtszüge meiner Mutter, vor allem diesen Mund, den auch ich habe. Nur alles halt älter.
Mein Herz galoppierte augenblicklich los und als die Verkäuferin auch noch ihren Namen nannte, war ich bestätigt. Hier stand meine Großmutter! Mein Magen wurde flau, mir wurde schwindelig, hektisch und mit klopfendem Herzen stürzte ich aus dem Laden und ……verleugnete meine Großmutter. Ich gab mich nicht zu erkennen.
Das verstörende Ereignis vergaß ich sofort. Ich schob es einfach ab in die finstersten Winkel meiner Seele.
Bis zu dem Ahninnen-Ritual. Plötzlich war sie da und ließ sich nicht mehr verdrängen, so sehr ich auch versuchte den Gedanken an sie wegzuschieben.
„Ich bin die Tochter von Christl, die Enkelin von Christine, die Urenkelin von Maria Juliana……raunte es in mir. Die Enkelin von Christine!“
Plötzlich war so viel Traurigkeit in mir, Tränen flossen erlösend und warm. Zu verstehen, dass nicht nur meiner Mutter Schreckliches widerfahren war, sondern auch ihrer Mutter, meiner Großmutter, veränderte meinen Blick auf meine Großmutter, meine Mutter und auch auf mich.
Sie sind beide in mir, ging es mir durch den Kopf. Meine Mutter wie meine Großmutter, denn als all das Schreckliche und dieser Schmerz passierte, war ich schon bei ihnen, in ihren Eizellen und Keimzellen. Ihren Schmerz, ihre Erfahrung trage auch ich in meinen Genen.
Und deshalb:
Heute ist wieder der 31. Oktober, die Nacht der Ahninnen. Ich werde ganz bewusst meiner BEIDEN Großmütter gedenken und sie in mir versöhnen, weil sie BEIDE ein Teil von mir sind.
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