Das alte Jahr verabschiedet sich gerade, das neue steht vor der Türe. Mich hat grad jetzt in dieser End- und Anfangsphase eine kleine Krise ereilt. Ich trag ein schweres Herz herum, fühle mich traurig und habe einiges zu verdauen an Gedanken wie auch an Gefühlen. Weil bloggen da immer heilsam ist und weil ich glaube, dass meine Situation vielleicht auch anderen bekannt ist (im Grunde erleben wir ja eh alle das Gleiche, halt zeitverschoben), habe ich beschlossen wieder einmal Seelenstriptease zu machen und Euch an meinen Gedanken und Reflexionen teilhaben zu lassen. Wer also interessiert ist, bitte weiterlesen. Wem Seelenstriptease auf die Nerven geht, einfach wegklicken!
Jede Stärke kann auch eine Schwäche sein und umgekehrt, sagt man. Wo viel Licht, da auch viel Schatten. Ich hadere gerade mit einer Eigenschaft von mir, die ich bis jetzt als eine meiner großen Stärken betrachtet habe. Eine Eigenschaft, auf die ich immer stolz war, von der ich immer dachte, dass sie mich (selbstverständlich neben weiteren) sehr ausmacht. Jetzt frage ich mich, ob es nicht Zeit wird, diese Eigenschaft abzulegen oder zumindest zu überdenken und ans Leben und meine Erfahrungen, eine habe ich grad kürzlich wieder gemacht, anzupassen.
Wenn ich einen neuen Menschen kennenlerne und von ihm begeistert bin, sehe ich zuerst einmal lange Zeit nur das Positive. Ich sehe, was er erreicht hat, was er alles schafft, was er kann, wie er sich entwickelt hat, welche Kompetenzen er hat. Ich staune, wie er sein Leben meistert, wie er die Welt sieht, wie er sich engagiert. Ich gebe Menschen beim Kennenlernen tonnenweise Vorschusslorbeeren, laufe mit offenem Herzen diesem Menschen entgegen und erweise mich nicht selten als sehr großzügig und gehe davon aus, dass alles Gute auch wieder irgendwie zurückkommt und es immer auf die eine oder andere Weise zu einem Energieausgleich kommt. Immer wieder hebe ich Menschen dann auch auf ein Stockerl, besonders wenn sie älter sind als ich, mehr Erfahrungen haben, (vermeintlich) erfolgreicher sind als ich und vielleicht auf bestimmten Gebieten Besonderes geschafft haben. Ich fühle mich dann geschmeichelt, wenn so jemand mit mir Kontakt sucht, befreundet sein will oder mit mir arbeiten will. Wenn ich im Laufe der Zeit dann Eigenschaften an der Person entdecke, die mir weniger oder gar nicht gefallen und meine innere Warnblinkanlage auf Gelb schaltet, wische ich diese Beobachtungen und auch meine innere Stimme zur Seite. Es ist doch niemand nur ein guter Mensch! Jede/ jeder von uns hat auch Fehler, Schattenseiten eben. Auch ich! Also rufe ich mich selbst zur Ordnung und sage mir so beschwichtigende Sätze wie: „Sei nicht so kleinlich!“ oder „Du erwartest zu viel!“ oder „Dir muss nicht alles gefallen!“.
Was ich durch diese meine Eigenschaft immer wieder erlebe, ist Enttäuschung. Und das im wahrsten Sinn des Wortes: Ent-Täuschung. Das Ende der Täuschung, der Selbsttäuschung. Tja, und die tut manchmal sehr weh und arbeitet tagelang in mir. So wie im Moment. Ich bin enttäuscht, verletzt, zornig. Und doch weiß ich, dass ich niemanden Schuld geben kann, sondern ich mir vor allem selbst etwas vorgemacht habe, Beobachtungen und Botschaften ausgeblendet habe.
Gestern dann, im Gespräch mit einer Freundin, stellte ich fest, dass mein Mann mir seit über 20 Jahren genau die entgegengesetzte Variante des Zugehens auf Menschen vorlebt und ich eigentlich von ihm lernen könnte. Mein Mann legt beim Kennenlernen jedem Menschen gegenüber zuerst einmal Skepsis an den Tag und sieht eher Negatives am Gegenüber. Vorschusslorbeeren bekommt von ihm niemand. Sein Vertrauen muss und kann man sich erarbeiten. Er revidiert seinen negativen Blick, wenn man ihn im Miteinander und in der Begegnung vom Positiven überzeugt. Doch es dauert, bis er sich Menschen öffnet und er kehrt auch augenblicklich wieder zur skeptischen Haltung zurück, wenn etwas nicht rund läuft. Noch länger dauert es, bis er sich einem neuen Menschen gegenüber als großzügig erweist. Bevor er einem neuen Freund Geld leihen würde, bekommt es lieber der Bettler auf der Straße. Wenn dann aber irgendwann jemand meinen Mann überzeugt hat von sich und sich quasi über längere Zeit bewährt, dann gibt er sein letztes Hemd.
Diese Art des Umgangs mit Menschen, auch wenn mich seine Skepsis und vorsichtige Haltung manchmal extrem nervt, hat ausschließlich positive Auswirkungen auf sein Leben, muss ich immer wieder anerkennend und staunend feststellen. Mein Mann erlebt nie oder kaum Enttäuschung. Wenn ich die 20 Jahre zurückdenke, die wir zusammen sind, dann fallen mir bei mir einige tiefe Enttäuschungen ein, bei meinem Mann aber keine einzige.
Tja, und genau das lässt mich zurzeit sehr nachdenklich sein. Ich habe mir vorgenommen, spätestens bis zum 31.12. meine gerade erlebte Enttäuschung verarbeitet zu haben, mein derzeit schweres Herz hinter mir zu lassen, und voller Elan und mit Lebensfreude ins Jahr 2024 zu gehen. Wer mich kennt, weiß aber auch, dass ich aus solchen Situationen immer lernen möchte. Ich bin einfach davon überzeugt, dass solche Erlebnisse mich etwas lehren sollen.
Ja, und so frage ich mich im Moment ernsthaft, ob ich in meiner Herangehensweise an neue Menschen nicht dringend den Hebel auf „Skepsis“ stellen sollte. Ich würde weniger Enttäuschung erleben, weniger Verletzung, und ich würde weniger Lebenszeit in die Aufarbeitung solcher Erlebnisse stecken müssen, die mich immer ziemlich herumbeuteln, einfach weil mich Verletzungen dieser Art aufgrund meines offenen Herzens immer tief treffen. Die letzten Tage habe ich einige Male geweint und schlaflose Nächte sind momentan obligat.
Es gibt nur eine Frage, die mich derzeit noch zurückhält, den Hebel umzulegen (wenn das denn überhaupt möglich ist). Sie lautet: Was VERLIERE ich dadurch? Was verliere ich, wenn ich nicht mehr offen und voller Begeisterung auf Menschen zugehe und nur das Positive an ihnen sehe? Was verliere dann ICH?
Hast Du solche Erfahrungen auch schon gemacht? Wie gehst DU damit um? Und, bist Du in der Begegnung mit neuen Menschen eher Fraktion Skepsis oder Fraktion Vorschusslorbeeren?
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