Vor einigen Tagen bin ich am Blog Unruhewerk über Marias Gedanken zu Neustart mit 50plus und Vorbilder gestolpert. Maria ist vor einiger Zeit beruflich neu durchgestartet, sie hat sich selbstständig gemacht als Texterin, Autorencoach, Lektorin, sie wird mein übernächstes Buch zum Thema Pension begleiten und ich fühle mich ihr sehr verbunden. Maria hadert im Moment ein wenig mit ihrem Neustart, weil sie in sich Vielfalt trägt, aber diese sich schwer verkaufen lässt und ihr Umfeld ihr rät, sich zu spezialisieren.
Mich hat Marias Blogpost gedanklich zurückgebeamt ins Jahr 2002. In diesem Jahr, das ist jetzt schon 16 (!!) Jahre her (ich kann es kaum glauben), habe ich den Schritt in die Selbstständigkeit als Trainerin für Altenpflegethemen gemacht. Vorbilder gab es damals wenige in meinem Fachbereich, selbstständige Pflegekräfte waren ein Novum. Es wuselten ein paar Spezialistinnen durchs Land, die zu sehr engen Spezialthemen Trainings anboten, dies auch meist nur nebenberuflich. Ich aber plante zu 100% von meiner Selbstständigkeit zu leben.
Bald schon stellte ich fest, dass ich einen Bauchladen vor mir her trug und dieser sich nur schwer verkaufen ließ. Mein Bauchladen klang nach „Ich kann alles“ und damit für Kunden nach „die kann nichts“. Bei Vorstellungsterminen kam ich nicht auf den Punkt, es fehlte die Klarheit des Angebotes. Meine potentiellen Kundinnen waren, so hatte ich den Eindruck, mit mir überfordert. Wenn ich in Richtung der spezialisierten Kolleginnen sah, fraß mich der Neid. Die waren super gebucht, jeder verstand was sie im Angebot hatten, ihre Flyer und Homepages waren fokussiert auf ein Thema. Validation. Punkt. Böhmpflege. Punkt. Kinästhetik. Punkt. Kein Abweichen nach links oder rechts, sondern geradeaus, immer nur das eine Thema. Meine Unterlagen dagegen beinhalteten eine lange Auflistung von Seminarthemen, die mir selbst wichtig waren und die ich gerne halten wollte. Viele Themen davon waren, so sehe ich das heute, weit der Zeit voraus. Kurz und gut: Meine Buchungslage entwickelte sich in den ersten Jahren schleppend und ich hatte immer wieder mit echten Existenzängsten zu kämpfen. Das waren die Momente, wo ich genauso mit mir haderte, wie Maria heute.
Du musst Dich spezialisieren, rief meine innere Stimme, raunte mein Coach und mein Umfeld. Also plante ich, neben dem begonnenen Gerontologie-Studium, eine längere Fortbildung zu besuchen und dann mit Spezialisierung fokussiert meine Selbstständigkeit in den Griff zu bekommen. Doch genau in diesem Moment wurde ich zu meiner Überraschung für ein großes Projekt gebucht, es ging um Sturzprävention in Seniorenheimen und ich sollte an die 40 Seminare a 2 Tage halten. Immer zum gleichen Thema. Nach einem ersten Jubelruf spürte ich aber erstaunlicherweise in mir Zweifel. 40 Mal das gleiche Seminar? 40 Mal das gleiche predigen? 40 mal die gleichen Fragen? 40 Mal die gleichen Antworten geben? Entsetzlich! Also habe ich mir eine Partnerin gesucht, die die Hälfte der Seminare übernahm, mit der ich ganz wunderbar zusammenarbeitete und mit der ich bis heute eng befreundet bin. Ich habe diesen Schritt nie bereut. Nach meinen 20 Seminaren richtete ich ein Stoßgebet in Richtung Himmel und bat, mich mindestens ein Jahr mit dem Thema Sturzprävention in Ruhe zu lassen. Was dann auch prompt funktionierte.
Ich hatte gelernt, Spezialisierung ist nicht mein Ding. Mir wird schnell mal langweilig mit einem Thema. Ich brauche einfach immer wieder etwas Neues. Ich bin eine Pionierin und brauche immer wieder neue Herausforderungen. Immer das gleiche predigen ist für mich lähmend, da verkümmere ich. Aber noch haderte ich mit mir. Wie sollte ich jemals genug verdienen, um ein Leben ohne Existenzängste führen zu können? Immer wieder rief ich mich zu Disziplin, wenn ich mit mir vereinbarte Themenfokussierungen wieder einmal über den Haufen warf.
Dann las ich Sascha Lobos Buch Wir nennen es Arbeit: Die digitale Boheme oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung und dieses Buch hat mich vom Zwang mich spezialisieren zu müssen schlagartig befreit. Ich fand mich in so vielen Textstellen wieder. Meine Ängste, meine Bedenken, mein Hadern, die Unfähigkeit nur EIN Ding zu machen. Ich war endlich nicht mehr alleine! In diesem Buch wurde die Vielfalt sogar als Schatz gefeiert. Lobo sprach davon, wie wichtig für Selbstständige Standbeine sind und dass diese nicht immer nur Spaß machen müssen. Er nannte die Unfähigkeit zur Spezialisierung beim Namen, sah darin eine Stärke und bezeichnete dieses inhaltliche Querarbeiten als „Spielbeine“, die Spaß machen und deshalb Energie bringen. Sie wären nie umsonst, selbst wenn daraus kein Geschäft entstünde, denn sie würden mich als Unternehmernin IMMER weiter bringen, weil ich jedes Mal Erfahrungen sammle und Kontakte knüpfe.
Mittlerweile lebe ich seit rund 13 Jahren nach dem Prinzip Standbein – Spielbein – Spaßbein und gehe mit Lust, Freude und meistens sehr entspannt durch mein berufliches Leben. Existentiell unsichere Zeiten gehören mittlerweile für mich zur Selbstständigkeit dazu, genauso wie die Zuversicht, dass sich am Ende immer alles gut ausgeht.
Meine Standbeine, sie sichern mir ein warmes Dach und die Butter aufs Brot, hege und pflege ich mit Leidenschaft. Und fehlt es mir längere Zeit an Leidenschaft, spüre ich Langeweile oder Frustration, dann verabschiede ich mich auch von Standbeinen. Meistens ist zu diesem Zeitpunkt bereit ein Projekt aus der Kategorie Spielbein dabei, sich zu einem Standbein zu entwickeln, sodass das Loslassen leichter fällt. In die Kategorie Standbeine fallen meine Seminare für Einrichtungen der Altenpflege, mein Unterricht an verschiedenen Krankenpflegeschulen und meine Vorbereitungsseminare für die Pension. Als Standbein betrachte ich aber auch meinen großen Garten in Ungarn, auch er ist für mich Teil meiner Arbeit, denn er trägt mittlerweile Kilos an biologischem Gemüse und Obst zu unserem Leben bei. Losgelassen habe vor einiger Zeit, mit etwas Bauchgrummeln, meine Pflegeberatungen, die ich sieben Jahre lang für eine öffentliche Einrichtung gemacht habe. Ich war einfach nicht mehr mit Herz dabei.
Meine Spielbeine sind Herzensprojekte, die ich starte, weil mich das Thema brennend interessiert, weil ich einfach Lust drauf habe. Ich nehme sie auf, weil ich davon überzeugt bin, dass sie Thema sind, eine Chance sind mich als Unternehmerin weiter zu entwickeln. Spielbeine sollen langfristig ein fixes Standbein werden oder für eine begrenzte Zeit zu meiner wirtschaftlichen Lebenssicherung beitragen. Spielbeinprojekte entwickle ich mit Muße, sie dürfen reifen. Sie zu entwickeln macht viel Spaß. Da ist mein Pioniergeist gefordert, meine Kreativität, meine Leidenschaft, da erlebe ich Leichtigkeit, weil es keinen Zwang gibt. Scheitern sie, habe ich gelernt! Nichts muss, aber alles darf geschehen. Ein erfolgreiches Spielbein ist derzeit das Carecamp, entwickelt zusammen mit der großartigen Dorothee Glöckle, feiert es heuer runden Geburtstag, es findet zum fünften Mal statt. Auch meine Autorinnentätigkeit ist ein Spielbein, ich habe eine riesige Freude damit. Nach dem Erfolg meines ersten Buches, habe ich vor einigen Tagen den Vertrag für mein zweites Buch, dieses Mal ein Fachbuch, unterschrieben. Langfristig hoffe ich, dass Bücher zu schreiben ein fixes Standbein in meinem Leben wird.
Bleiben noch die Spaßbeine. Dazu zähle ich alle Projekte, die ich einfach nur mache, weil sie mich freuen. Sie müssen nichts werden, sie müssen nichts einbringen (aber dürfen!), sie müssen mir vor allem einfach Spaß machen. Dazu zählen unregelmäßige ehrenamtliche Tätigkeiten, spontane Mitarbeit an kleinen Projekten, Kunstprojekte mit meinem Mann. Im Moment arbeite ich etwa mit einer Kunstvermittlerin für moderne Kunst an Führungen für Menschen mit Demenz. Auch das Bloggen ist für mich ein Spaßprojekt, ich führe den Blog VielFalten (auf dem Du Dich gerade befindest) und meinen Hundeblog Prinzessin Nutella, beide weitgehend werbefrei, eben weil Spaßprojekt.
Diese Kategorisierung Standbein-Spielbein-Spaßbein hat mein Leben strukturiert. Ich bin in meiner Vielfalt geblieben, aber ich kläre bei jeder neuen Idee die Prioritäten.
Standbeine bekommen viel Energie von mir, um die muss ich mich kümmern, Weiterentwicklung, Kundenpflege, Akquiese, Öffentlichkeitsarbeit, sie sichern mir die wirtschaftliche Existenz und auch die Möglichkeit meinen Spiel- und Spaßbeinen nachzugehen. Treffe ich auf eine ganz neue Idee, prüfe ich zu welchem „Bein“ sie gehören könnte. Diese Zuordnung dauert manchmal etwas, ist nicht immer sofort klar. Ein Beispiel: Letztes Jahr habe ich das erst Mal den Kurvenmarkt veranstaltet, einen Second-Hand-Modemarkt für Plus-Size-Frauen. Ich habe ihn eingeordnet als Spielbein, langfristig sollte er also Geld abwerfen, deshalb habe ich überlegt, wie ich ihn professionalisieren und kommerzialisieren kann. Doch mittlerweile habe ich mich anders entschieden, weil er beruflich ein völlig neues Thema wäre und viel zu viel meiner Energie binden würde, um kommerziell erfolgreich zu werden. Also ist er jetzt Spaßbein. Ich mache ihn, weil er mir Freude bereitet. Er sollte keine Kosten verursachen, das ist ein Ziel. Aber einbringen soll er nur so viel, dass ich am Kurvenmarkt selbst lustvoll shoppen kann :-) Im Moment bastle ich an der Homepage, der nächste Kurvenmarkt geht im Mai 2017 über die Bühne und ich freue mich schon sehr auf einen bunten Tag.
Anderes Beispiel: Kürzlich wurde ich angefragt, ob ich in einem Forschungsprojekt mitarbeiten will. Erste Einordnung: Standbein. Als ich die Honorarsätze vernahm, fiel ich vom Hocker. Bitte, wie mies ist Forschung bezahlt! Ich wollte sofort absagen, für Ausbeutung stehe ich nicht zur Verfügung. Doch dann ging ich in mich. Forschung? Das hatte ich noch nie. Eine neue Welt. Ich würde neue Menschen kennenlernen. Ich würde lernen. Also beschloss ich das Forschungsprojekt unter Spaßbein einzuordnen. Ich teilte dem Forschungsinstitut mit, dass ich entsetzt bin über die niedrigen Honorarsätze und eigentlich absagen wollte, aber anbieten würde „am Rande“ (also mit nur wenig Stundeneinsatz) als Beraterin dabei zu sein. Die Forschungseinrichtung war mehr als glücklich, fühlte sich wertgeschätzt und das erste Arbeitstreffen war bereits eine enorme Bereicherung für mich.
Letztes Beispiel: Vor einigen Monaten bin ich über ein neues Thema in meinem Fachbereich „Altern“ gestolpert. Welches ist noch geheim :-) In mir war ein einziges „Hurrraaa, wie geil ist das denn!“. Also habe ich es aufgegriffen, gesehen dazu brauche ich eine Partnerin und prompt fiel mir auch eine Frau ein, mit der ich mir vorstellen könnte zu arbeiten. Ich schrieb sie an. Erstes Treffen Dezember 2016. Einordnung der Idee unter Spielbein und dahinter noch ein großes Fragezeichen. Vor zwei Tagen hatten wir einen ersten Workshop. Aus dem Fragezeichen wurde ein Rufzeichen und wir sind beide Feuer und Flamme, haben mit der Detailarbeit begonnen. Langfristig soll, nach der Phase des „Spielens“, für uns beide ein weiteres Standbein entstehen.
Ich bewundere nach wie vor Selbstständige, die es schaffen ein klares Thema zu haben und sich fokussiert zu verkaufen. Sie verdienen meistens mehr und müssen dabei weniger arbeiten. Es gibt Momente, da wäre ich gerne wie sie. Aber tief in meinem Herzen weiß ich, ich wäre nicht glücklich. Für mich ist die Vielfalt der Weg. Ich liebe es Seminare für Seniorenheime zu halten, ich bin beseelt nach einem erfolgreichen Pensionsvorbereitungsseminare, ich arbeite leidenschaftlich gerne mit KrankenpflegeschülerInnen. Aber ich liebe auch meine Projekte abseits des geraden Weges. Ich stolpere immer wieder über Ideen und Projekte, die ich einfach nicht unbeachtet am Straßenrand liegen lassen kann. Ich muss sie aufnehmen, ansehen, ihnen nachgehen, sie erforschen, ausprobieren. Das macht mich glücklich. Das gibt mir Energie. Und so ganz nebenbei habe ich mir damit auch den Ruf erworben, enorm innovativ zu sein.
Ich könnte sicher mit Spezialisierung mehr Geld verdienen und ich würde es sicher leichter haben. Aber ich wäre nie und nimmer so zufrieden mit mir und meinem Leben, wie ich es bin. Ich liebe meine Vielfalt, ich liebe diese Buntheit. Sie nährt mich.
Liebe Maria! Das ist meine lange Antwort auf Deinen Blogpost. Danke für Deinen Input. Keep cool :-) Ich freue mich darauf mein Buch mit Dir zu entwickeln. Übrigens: Kategorie Spaßbein!
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Maria meint
Liebe Sonja,
lass uns bitte nie reich werden… (schaffen wir sowieso nie…), aber glücklich, crazy, visionär und vielseitig bleiben!!!
Ich bin noch ganz geplättet davon, wie ähnlich unsre Gedanken zu ganz ähnlicher Zeit sind…
Und an alle: NEIN!!! Wir haben uns nicht abgesprochen. Sind – so weit ich weiß – auch nicht verwandt….
Ich möchte mal wieder ganz laut in die Welt posaunen (überkommt mich nicht das erste Mal…): Die Sonja, die ist so toll!!! Und, naja, manchmal ein klein bisschen wie ich. Doch noch viel viel besser, weil sie viele Dinge viel früher kapiert hat als ich…
(Wen es interessieren sollte: hier meine Sicht der Dinge… https://unruhewerk.de/vorbilder-beruflicher-neustart-50plus/)
Sonja, darf ich „Schwester“ sagen?
Dickes Bussi
von Maria
Sonja Schiff meint
:-) Schwester! Freu mich so darauf Dich im April in die Arme zu schließen!