Nachdem ich in dem Artikel “Rollator in barbierosa“ davon geschwärmt habe, wie spannend und vielseitig mein Fachgebiet Gerontologie (Alternswissenschaft) ist, will ich heute die beiden Begriffe Alter und Altern vorstellen und ein wenig differenzieren.
„Aber was gibt’s da vorzustellen?“ wird manche LeserIn denken. Weiß doch jede! Alt ist wer……? Na, wer eigentlich? Wer nicht mehr arbeitet? Wer über 50 ist? Über 70? 100? Wer graue Haare hat? Wer Beeinträchtigungen erlebt? Wer Großmutter oder Großvater ist? Wer?
Vor vielen Jahren pflegte ich als Hauskrankenschwester eine relativ rüstige 102 jährige Frau. Sie lebte im Seniorenheim und verließ, bereits seit mehreren Jahren, nicht mehr ihr Zimmer. Auf die Frage, warum sie sich nicht zu den anderen Bewohnerinnen gesellen würde, meinte die Dame: „Was soll ich dort? Sind doch alles alte Leute da draußen“.
Ist Alter womöglich eine Sache der Perspektive?
Wir GerontologInnen sagen, Alter ist ein Konstrukt. Jeder Mensch setzt sich mit seinem Älterwerden auseinander und konstruiert dabei sein Bild von Alter. Dabei werden gesellschaftlich bekannte Alltagstheorien (etwa „alt ist gleich krank“) mit den eigenen Vorstellungen und Erfahrungen in Verbindung gebracht. Meine 104-jährige Patientin war der Meinung „die da draußen“ wären alt, weil sie pflegebedürftig waren, während sie noch ganz rüstig war, also nicht alt.
Die persönliche Konstruktion des eigenen Alters hängt eng zusammen mit persönlichen Vorbildern fürs Alter. Von Pflegekräften der Altenpflege wissen wir, dass sie oftmals ein sehr negatives Altersbild haben. Eine Bekannte, die als Psychologin in einem Seniorenheim arbeitet, meinte erst kürzlich zu mir: „Seien wir ehrlich. Altwerden ist Scheiße. Da gibt’s nichts Positives dran“. Und eine 55 jährige Nachbarin, die lange Jahre ihre an Demenz erkrankte Großmutter gepflegt hatte, erzählte mir von ihrer plötzlichen Vergesslichkeit und meinte: „Meine Güte, jetzt werde ich alt. Alzheimer lässt grüßen.“ Als ich ihr erklärte, dass ihre Vergesslichkeit auch hormonell bedingt sein könnte und eventuell mit den Wechseljahren zu tun haben könnte, war sie fast sprachlos.
Auch in der Literatur finden sich individuelle Aussagen zum Alter. Simone de Beauvoir war 62 Jahre alt, als sie ihr zweites großes Werk „Das Alter“ veröffentlichte, in dem sie das Alter von vielen Seiten her betrachtete, wie etwa ethnologisch, historisch und aus Sicht der Literatur. Immer wieder ließ sie die LeserIn teilhaben an ihren ganz persönlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema Alter, etwa mit dieser Aussage:
„Das Alter ist ein dialektischer Bezug zwischen meinem Sein in den Augen anderer, so wie es sich objektiv darstellt, und dem Bewusstsein meiner selbst, das ich durch das Alter gewinne. Es ist der andere in mir, der alt geworden ist, das heißt jener, der ich für die anderen bin: Und dieser andere – bin ich“ (De Beauvoir 2000, Das Alter, S.364).
Die persönliche Konstruktion des Alters steht aber natürlich auch in Verbindung mit dem persönlichen Erleben des Alterns im Moment. Erst gestern kontaktierte mich eine Bekannte, sie ist 60 Jahre alt, und erzählte mir, dass sie plötzlich Beschwerden hätte, die sie nie gehabt hätte. Ihre Gelenke würden ihr wehtun, sie müsse sich richtig überwinden plötzlich morgens das Bett zu verlassen und sie würde sich im Moment sehr alt fühlen.
Das gefühlte Alter wird außerdem maßgeblich von unserer Gesellschaft und deren Rahmenbedingungen mitbestimmt. Der 45jährige Langzeitarbeitslose, der aufgrund seines Alters keinen Job mehr findet, fühlt sich alt, oft sogar sehr alt. Die nach einem Unfall leicht gehbeeinträchtigte 60 Jährige, die an Kreuzungen den Unmut der Autofahrer zu hören bekommt, weil sie es nicht rechtzeitig schafft in der für sie zu kurzen Grünphase den Zebrastreifen zu überqueren, fühlt sich in dem Moment alt und zu langsam für diese Welt.
Alter lässt sich also nicht an einer Zahl festmachen, auch nicht an einem körperlichen Zustand. Alter wird gesellschaftlich und persönlich konstruiert. Damit ist der Begriff auch wandelbar. Galt ein Mensch, der in Pension ging früher als alt, weisen heute Menschen in dieser Lebensphase den Begriff „SeniorIn“ weit von sich.
Altern ist ein lebenslanger Prozess.
Damit komme ich zum Begriff Altern. Für die Gerontologie ist Altern ein lebenslanger Veränderungs- und Entwicklungsprozess auf biologischer, psychologischer und sozialer Ebene. Biologisch passiert Altern durch unumkehrbare Veränderungen der lebenden Substanz über den gesamten Lebenslauf. Dieser lebenslange körperliche Prozess führt am Ende zu einer erhöhten Verletzlichkeit des Körpers und irgendwann zum Tod. Altern ist auch ein Entwicklungsprozess, bei dem es sowohl zu Gewinnen, wie auch zu Verlusten kommen kann. Gewinne sind etwa die Zunahme an Erfahrungswissen, sowie die, durch die Bewältigung von Lebenskrisen erlangte, emotionale Stärke. Zu den Verlusten zählen beispielsweise Einbußen im Bereich des Kurzzeitgedächtnisses und der raschen Verarbeitung von Informationen (vgl. Kruse & Wahl 2010, Zukunft Alter)
Als Gerontologin bin ich am Leben alter Menschen interessiert. Wenn ich mit hochbetagten Menschen in Kontakt bin, dann lerne ich einen Menschen kennen nach einer sehr langen Lebensreise. Wie dieser Mensch jetzt ist, wie er sich verhält, was er denkt, wie er sein Leben sieht, wie es ihm wirtschaftlich geht- all das ist das Ergebnis seines Lebensverlaufes. Auch deshalb bin ich begeisterte Gerontologin. Ich finde es spannend die Geschichten von Menschen zu erfahren. Da Altern ein Prozess ist, ist er bis zur letzten Sekunde gestaltbar. Das bedeutet, auch hochbetagte Menschen unterliegen einem Entwicklungsprozess und können entscheiden, Gewohntes noch zu verändern. Darum sollte man alte Menschen nicht unterschätzen, sondern bis zur letzten Sekunde ihres Lebens auch ernst nehmen und die Entscheidungen für ihr Leben selbst treffen lassen. Auch bei Pflegebedürftigkeit.
Meine 102 jährige Patientin Frau R., übrigens eine äußerst selbstbestimmte und resolute Person, schilderte mir einmal, wie es sich anfühlt, sehr alt zu sein. Sie erklärte mir: „Wissen Sie, wenn ich manchmal in den Spiegel sehe, dann erschrecke ich und denke mir, huch, wer ist diese runzelige, alte Frau! Bis ich bemerke, das bin ja ich“. Dann lachte sie meistens schallend und meinte mit verschmitztem Gesicht: „Wissen Sie, die Seele wird nie alt“.
Frau R. starb mit 104 Jahren. Ich durfte sie 2 Jahre lang begleiten. Für mich war sie eine ganz besondere Frau. Sie war es, die mir die Begeisterung für das Thema Alter und Altern ins Herz gepflanzt hat.
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