Meine Timeline ist ein einziger großer Widerspruch. Meine Timeline tut mir in meiner Seele weh. Meine Timeline zeigt die Härte, die Unmenschlichkeit und die Ignoranz dieser Welt. Den Egoismus. Die Kälte. Die Hoffnungslosigkeit und Überforderung, die Hilflosigkeit. Meine Timeline erzählt von einer Welt im DORT und einer Welt im HIER.
DORT, das ist Aleppo. Eine Stadt, die gerade untergeht. Aleppo, das ist der Ort an dem gerade Tausende Menschen hungern, frieren, alles verlieren, unter irgendwelchen Plastikplanen kauern und hoffen wenigstens zu überleben. Aleppo ist der Ort an dem laut Augenzeugenberichten gerade Assads Schergen Kinder und Frauen bei lebendigem Leib verbrennen, der Ort an dem genau jetzt 100 unbegleitete Kinder gefangen gehalten werden und bombardiert, der Ort an dem gerade jetzt Ärzte und Krankenschwestern erschossen werden als Strafe dafür, dass sie Monate unter Lebensgefahr ihren Job getan haben. Aleppo, das ist der Ort an dem Menschen jetzt verzweifeln, letzte Hilferufe via Sozialer Medien nach draußen schicken in dem Wissen, dass die Welt ihnen nur zuschaut beim Sterben. Aleppo ist der Ort, an dem eine Welt und ihre Menschen vor die Hunde gehen, Menschen, die vor ein paar Jahren noch ein gutes, ein wohlhabendes Leben hatten. Aleppo, das ist der Ort wo ein Drecksarschloch-Herrscher gerade der Welt zeigt, dass er alles tun kann was ihm beliebt. Alles.
Und das HIER? Das HIER bist Du und ich. Sind wir.
Im HIER bloggen wir fröhlich über Weihnachtseinkäufe und geben irgendwie absurde und völlig irrelevante Outfit-Tipps für die Festtage. Im HIER verabreden wir uns auf einen Glühwein am Christkindlmarkt oder freuen uns auf die abendliche Weihnachtsfeier. Wir posten Keksrezepte und Styling-Tipps für den Weihnachtsbaum, gehen am Nachmittag zum Weihnachtsshopping oder gönnen uns einen Aufenthalt in der Therme. Im HIER ärgern wir uns über die Dauerberieselung durch „Last Christmas“, über zu wenige freie Parkplätze im Shopping Center und die lange Schlange im Elektrosupermarkt. .
Wir im HIER blicken wie durch ein Fenster auf das DORT. Auf Aleppo und das Leid der Menschen. Wir sind kurz betroffen, rufen „Das kann doch nicht sein!“ oder auch „Stoppt den Wahnsinn“, aber eine Sekunde später überlegen wir schon wieder, was wir der Mitzi-Tante zu Weihnachten schenken sollen.
Im HIER bemitleide ich mich selbst gerade wegen der Einschränkung, die mir eine Sehnen- scheidenentzündung an der rechten Hand beschert, während im DORT, in Aleppo, kleine Kinder auf den Straßen erfrieren.
Leute, mir ist heuer nicht mehr nach Weihnachten. Weihnachten zu feiern kommt mir abartig vor, wie ein Hohn, als würden wir den anderen Menschen, jenen im DORT, in Aleppo, ins Gesicht spucken.
Leute, sorry, aber mir ist nicht mehr nach Euren oberflächlichen Outfit-Präsentationen, nicht mehr nach Euren Geschenketipps und nicht mehr nach Euren Keksrezepten.
Mir ist nur noch nach Schreien und Toben in Anbetracht meiner Timeline, der vielen Videos, der Berichte, der Hilferufe, der ungehörten Schreie. Mir ist nach Weinen und Fluchen, nach Verzweiflung.
Was, wenn wir heuer alle Weihnachtsenergie nach Aleppo lenken würden? Wenn wir auf unseren „Spaß“ verzichten würden und eine Welle der Hilfe und Solidarität in Richtung Aleppo (und alle anderen Gräuelorte dieser Welt) schicken würden?
Was, wenn wir heuer Weihnachten vom HIER ins DORT bringen würden? Oder wenigstens jene Menschen, die vom DORT im HIER gelandet sind bei uns willkommen heißen würden.
Tonari meint
Am Schlimmsten empfinde ich die Ohnmacht.
Ich kann Deine Gedanken nachvollziehen. Oft geht mir angesichts des Weihnachtsgeschäftes (und nicht nur dann) ähnliches durch den Kopf.
Nur leider denke ich auch, dass der persönliche Verzicht, den wir hier üben, den Menschen in Aleppo und andernorts nicht hilft.
Ich resigniere nicht vor dieser Situation, sondern versuche in meiner unmittelbaren Nähe Menschlichkeit zu zeigen. Da wurde ein Weihnachtspäckchen für ein Kind im Kinderheim gepackt, einer Freundin finanziell aus der Patsche geholfen usw. Kleine Gesten, keine große Weltverbesserung.
Nicole meint
Liebe Sonja,
vielen Dank für Deine wachrüttelnden und sehr nachdenklich machenden Worte, die einem vor Augen führen, wie grausam die Menschen miteinander umgehen. Das ist etwas, was ich niemals verstehen werde. Und ich verstehe auch nicht, wie die Welt tatenlos zuschauen kann. Ich kann den Menschen in Aleppo nicht helfen, ich kann nur versuchen, die Welt in meinem Umfeld, im „Hier“ ein Stück weit besser zu machen. Und ich wünschte, wir alle könnten auch im „Dort“ helfen. Es macht einen so hilflos. Ich werde niemals verstehen, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun können.
Andrea Voß meint
Liebe Sonja, es macht mich auch sehr traurig, was derzeit in Aleppo passiert. Ich danke Dir für diesen Artikel. Er rüttelt wach. LG Andrea