Bekanntlich sieht man Dinge mit etwas Abstand klarer.
Steht man direkt davor oder steckt man gar mittendrin, ist die eigene Sicht gerne verstellt und dadurch eingeschränkt. Bei Kunstwerken geht man deshalb viele Schritte zurück, betrachtet das Objekt aus der Ferne, um einen Gesamteindruck zu erhalten.
Beim eigenen Leben ist diese distanzierte Sicht leider eher schwierig, man steckt oft jahrelang mittendrin und kann nicht sehen, wenn dieses Leben, man selbst, nicht mehr rund läuft, sondern Anpassung und Selbstverleugnung das Ruder übernommen haben, man sich gerade selbst verliert, sich und seine Lebensziele verrät. Freunde schütteln schon lange den Kopf, schauen hilflos zu wie man ins Unglück rennt, versuchen anzusprechen, aber vergeblich. Erst eine Krise, meist eine sehr schmerzhafte Krise, öffnet den Blick, erweitert die Perspektive und plötzlich sieht das Selbst wieder, was es lange nicht sehen konnte und erkennt, wie sehr das eigene Leben aufgegeben wurde für ein vermeintliches Stückchen Glück in der Zweisamkeit.
Meine erste Ehe ist das beste Beispiel. Ich konnte nicht sehen, wie sehr ich mein Leben aus den Augen verlor, wie sehr ich mich isolierte, wie sehr ich mich anpasste und alles tat, damit sich mein krankhaft eifersüchtiger Ehemann sicher fühlte. Übrigens ohne Erfolg. Ich verlor meine Freunde, ich verriet mich, meine Wünsche und Hoffnungen ans Leben, ich zog mich zurück, degradierte mich zum „Heimchen“ und verlor mein Selbstbewusstsein. Zehn Jahre meines Lebens lebte ich nicht mehr mich, mein Leben, meine Kraft, sondern lebte für das Lächelnd des Mannes an meiner Seite, für sein Gefühl von Sicherheit, für Streitfreiheit in der Beziehung. Lebte ein Leben, das nicht meines war. 10 Jahre lang.
Als alles vorbei war, erst da, konnten mir meine Freunde und meine Familie sagen, wie schlimm sie meine Wandlung erlebten, wie sehr sie darunter litten, wie hilflos sie waren, zu sehen, dass ich mich aufgegeben hatte. Und erst jetzt konnte ich ihre Botschaften hören, war ich fähig, ihre Sorge um mich wahrzunehmen.
Jahre später erlebte ich etwas Ähnliches bei einer Freundin. Sie, eine gestandene Frau mitten im Leben, lange Jahre alleinerziehende Mutter von drei Söhnen, lernte einen Mann kennen. Eifersüchtig. Am Anfang ein kleines bisschen, dann immer mehr und mehr. Von Beginn an sah ich Ihre Reaktionen auf ihn, spürte ihren Stress, ihre Angst, ihre Hoffnung auf Liebe und Beziehung, sah ich wie sie verdrängte und sich etwas vormachte, sah Tag für Tag, Monat für Monate ihre persönliche Veränderung, ihren Rückzug, ihre zunehmende soziale Isolation, das sich zuspitzende Unglück. Gespräche waren keine möglich, sie blockte ab. Wie ich, damals, vor ewiglanger Zeit. Endlich glücklich, war das Motto. Wolken wurden weggeblasen oder himmelblau angemalt. Dann, nach einigen Jahren, das zu erwartende Chaos, die Klärung des Blicks und die Einsicht, blind gewesen zu sein. Lebenszeit verloren zu haben.
Liebe macht blind, heißt es im Volksmund. Dem stelle ich eine andere These gegenüber: Nicht Liebe macht blind, Liebe klärt den Blick. Was blind macht, ist die Sehnsucht nach Liebe. Noch mehr auf den Punkt gebracht: Blind macht die Angst, nicht mehr geliebt zu werden.
Im Moment muss ich wieder einer Freundin zusehen, wie sie, aus meiner Sicht, ins Unglück rennt und sich selbst verliert. Das eigene Leben und die eigenen Ziele wurden längst über Bord geworfen, gestützt von scheinbar verständlichen Begründungen. Eine ehemals starke, kraftvolle Frau mutiert zu einem Häufchen „Frauchen“, ein Kompromiss jagt den anderen, der Mann und seine Bedürfnisse werden zum Mittelpunkt, bestimmen das Leben, die Frau tritt zurück, in den Schatten ihrer Selbst.
Ich könnte heulen, schreien, sie schütteln. Aber umsonst. Die Fassade des Glücks ist frisch verputzt und bunt getüncht. Sie darf nicht bröckeln.
Also wünsche ich von ganzem Herzen Glück und hoffe inständig, dass ich mit meinem Blick aus der Ferne falsch liege.
Lebenserfahrung ist manchmal die Hölle.
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