Kennt Ihr das? In Eurem Leben gehen grad die Wogen hoch, Ihr lauft irgendwie schon seit einiger Zeit unrund, manchmal habt Ihr sogar das Gefühl, Ihr seid nicht mehr Ihr selbst? Wie gefangen in einer Situation, aus der Ihr nicht mehr rausfindet, oder in einem Verhalten, welches Ihr einfach nicht ändern könnt. Ihr steht irgendwie hilflos vor Euch selbst, wundert Euch über Euch selbst. Aber eine Änderung herbeiführen? Geht nicht!
Ich bin irgendwie nicht mehr ich selbst
Ich habe mich jetzt Monate in so einer Situation befunden. Gefangen in negativen Emotionen, die mich herumgewirbelt haben wie ein vertrocknetes Herbstlaub im Sturm. Nichts konnte ich daran ändern. Nichts! Keine Kraft dafür.
Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, warum ich das alles erleben muss. Was ich lernen soll, worum es eigentlich geht, also hinter dem vordergründig stattfindenden Ereignis.
Der große Knall und sein Effekt
Vor einigen Tagen dann kam es zum großen Knall und von einer Sekunde auf die andere war der Schmerz so riesig, so überwältigend, dass ich ENDLICH den längst überfälligen Schritt tat: Ich löste die mich belastende Situation auf und sprang mitten hinein in all meine Ängste und in den großen Verlust mit seinem ganzen Schmerz.
Tja, und seitdem (okay, dazwischen lag eine durchheulte Nacht und viele Stunden, in denen ich nur, innerlich leer und fassungslos, an die Zimmerdecke starrte) habe ich großartige Erkenntnisse für mich gewonnen und kann jetzt sehen, warum das vorher Erlebte doch seinen Sinn hatte und für meine persönliche Entwicklung wichtig war.
Wie meinte der Philosoph Søren Kierkegaard? Das Leben muss man vorwärts leben, rückwärts kann man es verstehen.
Alles ein wenig kryptisch wovon ich rede? Ich weiß! Aber ich will in diesem Fall nicht alles erzählen, zu persönlich, darum muss ich ein wenig rumeiern 😊
Von einer Erkenntnis, die mein Leben veränderte
Es geht um frühkindliche Prägung. Ich bin schon seit Jahren davon überzeugt, dass wir alle, jeder einzelne Mensch, von den Großeltern und Eltern eine Art Erbe übergeben bekommen, welches wir unbewusst übernehmen. Wir erhalten etwa Lebensaufträge, wir bekommen Ängste übergeben, aber auch erlebte Gefühle. Alles auf einer unbewussten Ebene.
Ein Beispiel: Als junge Frau war ich voller Angst, sehr unsicher und deshalb völlig unselbständig. Ich traute mir nichts zu, brauchte für alles jemanden an meiner Seite, brauchte ständig Fürsprache, Motivation und Zuspruch von außen. Ich traute mich beispielsweise nicht alleine in Räume, in denen bereits fremde Menschen (vor allem Männer!) waren. So banal das klingt, aber diese kleine Angst war mehr als hinderlich im Leben. Man muss im Leben nämlich laufend Räume betreten, in denen sich bereits andere Menschen befinden. Bei einer Veranstaltung sah ich dann plötzlich die gleiche Angst und Unsicherheit bei meiner Schwester, die gleiche Unruhe, das gleiche Problem, das gleiche Verhalten. Zu meinem Glück besuchte ich damals regelmäßig eine Psychotherapeutin. Als psychiatrische Krankenschwester, die gelernt hatte, dass der Mensch vor allem ein Ergebnis seiner Kindheit und Prägung ist, war ich einfach neugierig geworden auf mich selbst. Ich erinnere mich, wie ich der Psychotherapeutin eines Tages aufgeregt von meiner Beobachtung erzählte, von meiner Schwester mit der gleichen Angst. Ihre einfache Frage lautete: Und wie verhält sich Deine Mutter in dieser Situation?
Es machte BAMMM in mir! Nichts hat mein Leben je mehr verändert als diese kleine Frage. Mit einem Schlag erkannte ich, dass all meine Ängste nicht meine Ängste sind, sondern die meiner Mutter. Sie war es, die mir diese Lebensangst von klein auf vorgelebt und damit vermittelt hat und ich habe sie unbewusst in mein Leben aufgenommen.
Was für eine Erkenntnis! Danach habe ich mich über Jahre, jedes Mal wenn ich vor so einer großen Angst stand, gefragt, ob diese Angst meine Angst ist oder die meiner Mutter. Und was soll ich sagen: Fast immer handelte es sich um die Angst meiner Mutter. In Folge konnte ich bewusst entscheiden, diese Angst jetzt nicht zu übernehmen, sondern mutig und zuversichtlich meine eigenen Schritte zu tun und meine eigene Erfahrung zu machen.
Wenn mich manchmal meine Mutter heute mit staunenden Augen fragt, wie es kommen konnte, dass ich mich, bei dieser ängstlichen Mutter, zu der entwickeln konnte, die ich eben bin – so mutig, so mitten im Leben, so voranschreitend, so drauf pfeifend was andere denken und sagen – dann weiß ich, dass es diese große Erkenntnis von damals war. Sie hat mich radikal befreit!
Einen Brief an das innere Kind schreiben
Warum ich diese Geschichte erzähle? Weil ich gestern in meinem großen Schmerz eine ähnlich wichtige Erkenntnis hatte. Über Wochen habe ich mich gefragt, warum ich so bedürftig bin, so abhängig davon, ob mich ein bestimmter Mensch mag, ich in seinem Leben wichtig bin, und warum ich plötzlich so unfassbare Verlustängste habe.
Gestern nahm ich mir vor diesen intensiven Verlustschmerz, der mich ja seit dem großen Knall heftig umspülte, bewusst zu bearbeiten. Dazu griff ich zu einer mir bekannten Methode. Ich habe einen Brief geschrieben an mein „inneres Kind“. An die kleine Sonja, die ich mal war, die immer in mir präsent ist und die ich bis zum Ende meines Lebens in mir tragen werde. Mit diesem Brief habe ich eine Art Dialog mit meiner kleinen inneren Sonja geführt und sie gefragt, woher diese Gefühle kämen, ihr erzählt, dass ich diese nicht verstehe, weil sie rational nicht nachvollziehbar wären. Weil ich eigentlich kein einsames, ungeliebtes und bedürftiges Wesen mehr bin, sondern eine Frau von 55 Jahren und weil ich eigentlich ein gutes und pralles Leben führe. Außerdem erzählte ich ihr, dass der Mensch, der all diese schmerzhaften Gefühle in mir auslöst, ja eigentlich gar nicht so wichtig ist, rein rational betrachtet. Weil zu Jahresbeginn gab es ihn noch nicht einmal in meinem Leben!
Beim Schreiben dieses Briefes an mein inneres Kind bin ich dann zuerst auf die kleine bedürftige Sonja gestoßen, die viele Situationen mangelnder Liebe erlebt hat. Das aber war gar nicht das Besondere. Zu wenig Liebe als Kind erfahren viele Menschen und außerdem, daran habe ich schon viel gearbeitet in der Vergangenheit. Um die Kränkungen meiner Kindheit weiß ich.
Mein Schmerz ist gar nicht mein Schmerz!
Mein Verlustgefühl dieses Mal war viel größer, schwerer, tiefer, er war in einer Weise überwältigend, wie ich es noch nie zuvor erlebt habe. Meines inneres Kind litt pure Qual. Und ich mit ihm. Auch in diesem brieflichen Dialog.
Und siehe da, plötzlich war da ein ganz neuer Gedanke, er floss beim Schreiben des Briefes wie von selbst aus mir heraus. Als ich mein inneres Kind fragte, ob dieser große Schmerz überhaupt sein und unser Schmerz wäre oder ob der Schmerz vielleicht zu jemand anderem gehört, wurde das kleine Kind in mir augenblicklich ganz still. Es war wie ein inneres Atemholen, ein Innehalten.
Wooow! Da war sie, die große Erkenntnis: Es handelt sich bei diesem Schmerz nicht um meinen Schmerz, nicht um meinen Verlust und nicht um meine Trauer. Es ist der Verlustschmerz meiner Mutter, die mit 9 Jahren von der Fürsorge aus ihrer Familie rausgenommen wurde, von ihren Eltern weg zu Bauern gebracht wurde, um dort fortan als Pflegekind zu leben und wie eine Sklavin zu arbeiten.
Mit einem Mal war mir klar: Alles, was ich seit 8 Monaten an Schmerz mit mir herumgetragen habe, hat nichts mit mir zu tun! Es ist der Schmerz meiner Mutter, der Schmerz ihres inneren Kindes. Diesen Schmerz hat sie mir als ich ein kleines Kind war (teilweise) übergeben. Vielleicht weil sie ihn alleine selbst nicht tragen konnte? Oder weil ich als kleine Sonja dachte, ihn übernehmen zu müssen, um meine Mutter zu entlasten, in der Hoffnung sie endlich einmal glücklich zu sehen?
Da war sie, meine Erklärung für die überwältigenden Gefühle der letzten Monate. Krass irgendwie.
Heute habe ich noch eine weitere Übung gemacht. Im Rahmen einer Visualisierung habe ich mein inneres Kind dabei begleitet, unserer Mutter ihren großen Schmerz zurückgegeben. Und seit heute bin ich frei! Ich bin nicht mehr bedürftig, nicht mehr leidend. Ich bin endlich wieder ganz, endlich wieder ICH selbst!
Jetzt kann ich mit liebevollem Blick zurückschauen, auch zu diesem Menschen, den ich wirklich sehr mag, und mich dann auf den Weg nach vorne machen. Den emotionalen Sturm abklingen lassen, zur Ruhe kommen, meine Wunden schließen, Verletzungen heilen lassen. Und wer weiß, vielleicht wage ich mit diesem Menschen irgendwann einen Neuanfang. Wenn alle Wunden verschlossen sind und ich sicher sein kann, nicht in alte Muster zurückzufallen.
Warum es sich lohnt, manchmal in die Vergangenheit zu blicken
Es gibt Menschen, die meinen, man sollte sein Leben nur mit dem Blick nach vorne leben, ein Blick zurück wäre vertane Zeit und bei Verhalten, welches ihnen Probleme macht, sagen sie: „So bin ich halt. Immer schon gewesen, wird sich wohl auch nicht ändern.“
Ich habe vor langer Zeit einen anderen Weg gewählt. Ich glaube daran, dass wir zu einem hohen Anteil sind, wie wir geprägt wurden und uns verändern können. Ich glaube daran, dass wir als Kind und als Jugendliche unbewusst Arbeitsaufträge übernehmen, Ängste, Verhalten, Gefühle, die uns oft daran hindern das eigene Leben zu leben…… und ich glaube daran, dass man nur die eigene Person werden kann, zum eigenen Selbst finden kann, wenn man solche Muster erkennt und auflöst.
Für mich ist der Blick in die Vergangenheit notwendig, um die Verantwortung für das eigene Leben auch wirklich übernehmen und kraftvoll in die Zukunft gehen zu können.
Was dabei hilft? Psychotherapie oder Lebensberatung, in der man lernt, sich selbst zu reflektieren. Und Bücher. In meinem aktuellen Fall war es das Buch Reifestufen der sexuellen Liebe von Notburga Fischer (Meine detaillierte Rezension HIER).
Ich habe dieses wunderbare Buch die letzten Wochen gelesen. Einige Inhalte dieses Buches, vor allem jene, wo es um frühkindliche Prägungen geht, haben tief in mir etwas zum Klingen gebracht und den Grundstein gelegt, für den Brief an das innere Kind und meine so wichtige persönliche Erkenntnis. Danke daher an dieser Stelle, unbekannterweise, an die Sexual- und Paartherapeutin Notburga Fischer.
Und Ihr? Habt Ihr schon mal darüber nachgedacht, warum Ihr tickt wie Ihr tickt? Warum Ihr dieses oder jenes Verhalten habt und warum ihr es, obwohl Ihr gerne würdet, nicht verändern könnt? Warum Ihr immer und immer wieder in die gleiche Falle tappt, die gleichen Ängste Euch immer wieder am Leben behindern, das gleiche Verhalten immer wieder Eure Beziehungen zerstört?
Wenn ja: Es lohnt sich, genauer hinzusehen. Auf das innere Kind. Auf die kleine Sabine, den kleinen Bernhard, die kleine Susi, den kleinen Anton in Euch. Es lohnt sich nach Euren kleinem Selbst zu forschen und mit ihm zu reden.
Mein inneres Kind liegt übrigens hinter einem bestimmten Punkt in der Mitte meines Brustbeins. Wenn ich mit ihm spreche, dann lege ich meinen Finger genau an diese Stelle und gehe in Kontakt.
Im Herbst lass ich mir dort, das habe ich heute beschlossen, ein kleines Herz tätowieren. Damit ich die kleine Sonja in mir, mein inneres Kind, nie wieder übersehe.
Alle Fotos dieses Beitrages sind Kinderfotos von mir und stammen aus meinem privaten Fotofundus.
Abschließende Anmerkung:
Warum bloggt jemand öffentlich über so etwas Persönliches? Narzissmus? Drang zur Selbstdarstellung? Nun, ich finde es gibt viel zu viele Tabus auf dieser Welt. Wie viele Erfahrungen wir Menschen mit uns selbst ausmachen müssen, weil es sich nicht gehört darüber zu reden! Dabei wäre es total wichtig diese Erfahrungen zu teilen, damit andere, die vielleicht gerade in einer ähnlichen Situation sind, bereichert werden.
Mit der Eröffnung dieses Blogs im Jahr 1996 habe ich beschlossen diese Tabus zu brechen und auch jene Lebenserfahrungen hier öffentlich zu schildern, über die man normalerweise nicht spricht. Mögen Sie jenen, die gerade mit sich ringen, ein wenig beim sich-selbst-wieder-finden helfen.
Claudia Köckeis meint
Liebe Sonja, Danke🙏🏻 für deine offenen, ehrlichen und mutigen Worte. Deine Art und Weise zu erzählen und/oder zu schreiben fand ich schon immer sehr anregend und interessant. Ich kann dir nur mit einem riesigen JA beipflichten, sich mit sich selbst auseinader zu setzen, sich und seinen ‚Macken‘, in jeglicher Form, auf die Schliche zu kommen. Und ja wir alle haben ganz viel im sogenannt Positiven wie im sogenannt Negativen von unseren Ahnen. Das alles gehört zu unseren Lernprozessen….
Und sich den Ängsten und dem Schmerz stellen führt in die Befreiung.
Ich bewundere deinen Mut dich im Blog so nackt und verletzlich zu zeigen. Du hast einen großen Leserkreis, und inspirierst und ermutigst. Das finde ich neben deiner anderen Berufung einfach großartig.
Alles Liebe 💕 Claudia
Sonja meint
Danke Claudia, freut mich ganz besonders, dass du meinen Blog verfolgst und meine Seelen-Striptease hier gut findest :-) Liebe Grüße!