Kürzlich bekam ich von einer sehr lieben Bekannten eine Mail, in der sie mir von ihrer Betroffenheit erzählte bezüglich meiner Krebserkrankung und wie traurig sie meine Situation machen würde. Sie meinte, sie würde sich immer wieder fragen, warum mir dieser Krebs passiert wäre, wo ich doch eine so durch und durch reflektierte Frau wäre. Sie ging davon aus, dass auch mich diese Frage quälen würde. Doch ich stellte beim Lesen der Email überrascht fest, ich hatte mir die Frage nach dem WARUM noch kein einziges Mal gestellt. Warum ich? Warum mir? Diese Fragen waren mir noch gar nicht in den Sinn gekommen. Vielleicht auch, weil es für mich darauf nur eine einzige Antwort gibt: Warum nicht mir?
In meiner Zeit als Krankenschwester in der Hauskrankenpflege bin ich vielen Schicksalen begegnet, die mich betroffen gemacht haben. Nie vergessen werde ich das 13 jährige Mädchen, Einzelkind, viele Jahre erwartet, durch künstliche Befruchtung entstanden, welches ich pflegte und welches in einer Winternacht zu Hause an einem bösartigen Hirntumor verstorben ist. Die gellenden und verzweifelten Schreie der Mutter nach dem WARUM, werde ich wohl für immer in meinem Ohr haben. Oder die junge Frau mit Bauchspeicheldrüsenkrebs, gesundheitsbewusst, Sportlerin, die sich immer kontrolliert ernährte, rein vegetarisch, biologisch, viel Vollkorn, dazu Spurenelemente und Vitamine zur Optimierung. Auf ihre tägliche Frage „Warum ich, wo ich doch so auf meine Gesundheit geachtet habe?“ hatte ich keine Antwort. Ebenfalls ohne Antwort war ich bei der Frage „Warum ist genau mir das passiert?“ des jungen Mannes, der zu seinem 18. Geburtstag eine Party besuchte, dabei ausrutschte, stürzte und mit dem Genick auf eine Kante fiel. Hoher Querschnitt, den Rest seines Lebens bettlägerig, er kann nicht einmal ein Glas Wasser selbst zum Mund führen. Warum er? Keine Antwort darauf.
Ich weiß, dass wir in einer Gesellschaft leben, die meint für alles Ungemach im Leben den Grund ausfindig machen zu können. Jeder ist für sein Schicksal angeblich selbst verantwortlich, man muss sich nur gut genug anstrengen, sich intensiv genug analysieren, positiv genug denken und schon ist das gute Leben quasi garantiert. Eine Krankheit, ein Schicksalsschlag erwischt einen doch nur, wenn man etwas übersehen hat, wenn man nicht gut genug hingesehen hat. Schicksal ist also selbst verschuldet. Seit meiner Diagnose gab es nicht nur einen Menschen, der meinte mir sagen zu können, woran es liegt, dass ich Krebs bekam, was ich übersehen hätte oder zu lernen hätte.
Ich teile diesen Blick auf die Welt, das Leben und die Entstehung von Krankheiten nicht. Aus meiner Sicht ist das der abgehobene Blick einer an Sattheit gewöhnte Wohlstandsgesellschaft, einer Gesellschaft, die meint alles erklären zu können, alles unter Kontrolle haben zu können. Aber das Leben geht seine eigenen Wege und pfeift auf unseren Wunsch alles im Griff zu haben. Vieles in unserem Leben ist Zufall, das vergessen wir gerne. Es ist Zufall, dass wir in Europa geboren sind und nicht in Afghanistan, im Jemen, im Sudan oder in Grönland. Es ist Zufall, dass wir als Mensch auf diese Welt gekommen sind und nicht als Ferkel in einer Schweinemast, als Kettenhund in Ungarn oder als wilder Löwe in Afrika. Es ist Zufall, wenn wir gesund in diese Welt hineingeboren wurden oder aber auch mit einer Behinderung. Das Leben lässt sich nicht kontrollieren. Es tut was es will.
Daher frage ich bezüglich meiner Krebserkrankung nicht nach dem Warum. Ich habe darauf nur eine Antwort: Warum nicht? Und ich habe dazu viele Gegenfragen: Warum sollte genau mich das Schicksal verschonen vor einer Erkrankung? Warum sollte genau ich gefeit sein davor, mich mit der Endlichkeit meines Lebens auseinandersetzen zu müssen? Warum sollte mein tolles Leben nicht auch einmal so richtig durchgeschüttelt werden? Warum sollte mein Leben mir nicht auch zurufen „Hey, das ist alles nicht selbstverständlich!“ und mich so richtig Demut lehren? Warum nicht?
Statt mir die Frage nach dem Warum zu stellen, denke ich derzeit viel über Vertrauen in mein Leben und mein Schicksal nach. Ich bin kein gläubiger Mensch, trotzdem trage ich so etwas wie Urvertrauen in mir, glaube ich daran, dass, in einem übergeordneten Kontext, am Ende alles gut wird.
Ich freue mich darüber, dass da in mir keine Stimme ist, die meint ich hätte etwas versäumt im Leben. Im Gegenteil, meine innere Stimme meint, es war bis jetzt ein gutes Leben gewesen. Viele Menschen schreiben Bucket-lists, schreiben also jene Dinge auf, die sie unbedingt noch erleben wollen, vor dem 60. Lebensjahr, bevor sie sterben. Ich wollte vor einigen Tagen meine Bucket-list zusammenstellen, saß am Küchentisch mit Kugelschreiber und Papier in der Hand, aber nichts passierte. Ich hab keine Bucket-list, die ich noch abarbeiten muss. Ich bin glücklich und zufrieden mit meinem Leben. Auch jetzt, trotz der Diagnose.
Eine einzige Sache beschäftigt mich wirklich. Mit meiner Krebserkrankung sitze ich plötzlich im gleichen Boot wie Mohammed, Asylwerber und mein afghanischen Sohn. Beide bangen wir um unser Leben. Ich habe Angst davor einen negativen histologischen Befund zu bekommen, einen Befund der mir die Hoffnung nimmt auf ein langes Leben. Mohammed hat Angst vor einem negativen zweiten Asylbescheid und damit vor der Abschiebung nach Afghanistan und dem ihm dort drohenden Tod. Da gibt’s nur einen kleinen Unterschied zwischen ihm und mir: Ich werde in meinem Kampf um mein Leben wie selbstverständlich unterstützt, von Ärzten, Pharmaindustrie und Krankenkassa. Für mich wird alles getan, was möglich ist. Mohammeds Leben dagegen hängt am seidenen Faden, an der Willkür von Beamten, Richter und Politik. Hier ist die Frage nach dem Warum berechtigt. Ist sein Leben weniger wert als meines? Warum?
Nein, ich stelle mir die Frage „Warum gerade habe ich Krebs?“ nicht. Ich denke mein Schicksal wollte einfach, dass dieses Leben, welches so gemütlich „dahinflutschte“ ein wenig durchgebeutelt wird. Das Leben ist eben lebensgefährlich. Oder, wie ich kürzlich gelesen habe und weil es so gut zu mir, die ich es liebe Zukunftspläne zu machen, passt: Willst Du Gott zum Lachen bringen, mache Pläne.
Claudia Braunstein meint
Liebe Sonja, ich wünsche dir für die heutige Tumorkonfernez alles Gute! Egal was kommen möge. Übrigens habe ich genau zu diesem Thema schon vor einiger Zeit einen Post geschrieben, mich hat das nämlich immer sehr genervt, auch heute noch. https://www.claudiaontour.com/lifestyle/gesundheit/warum-genau-ich/
Liebe Grüße, ich drück dich, Claudia
Sonja meint
hallo claudia, danke, kann mich an deinen beitrag erinnern! das tumorboard tagt gerade und ich sitze vorm pc auf nadeln…..aber jetzt geh ich staubsaugen zur ablenkung!
Karin Immler meint
Wie so oft sind deine Worte berührend und machen mich nachdenklich.
Gib gut acht auf dich!
Herzlichst
Karin
Judith meint
Schöne, klare Worte findest du da, Sonja! Neben der Saturiertheit der Gesellschaft steht auch noch das Bedürfnis nach Kontrolle hinter den Warum-Fragen, glaube ich. Kontrollverlust, der mit jeder schweren Erkrankung einhergeht, macht Angst – und viele Menschen begegnen dieser Angst mit abwehrenden Moralkeulen ….
Ich fand übrigens in Ken Wilber`s Buch „Mut und Gnade“ eine tolle Auseinandersetzung und viel Trost zum Thema von Krankehit, Tod und Schuld.
alles Liebe und Gute! Judith
Sabine Levi meint
Liebe Sonja,
Was für ein schöner Artikel und heute weiss ich, wie recht du hast. Für mich kam die Erkenntnis, dass wir keine Schuld an unserem Schicksal haben, erst nach einer langen Zeit des Fragens.
Liebe Grüsse,
Sabine