Letzte Woche habe ich mir einen Abreißkalender gebastelt. Andere Menschen zählen die Tage bis Weihnachten, bis zur Hochzeit oder bis zur Geburt ihres Kindes. Ich zähle die Tage bis zum Ende meiner Freiheit.
Mein Name ist Hella Schiller, ich bin 61 Jahre alt und vor mir liegen noch 299 Tage Freiheit. Danach bin ich die Gattin eines Pensionisten. Mir schwant Fürchterliches.
Fernsehen und Zeitungen erzählen mir vom agilen pensionierten Senioren in der Blüte seiner Zeit. Er ist durchtrainiert, hat keine Gelenksschmerzen, sein graumeliertes Haar ist voll, er ist sexuell potent und wahnsinnig erfahren. Der Pensionist von heute reist um die halbe Welt, surft in Hawaii, macht Trekking in Nepal und füttert Haie vor Kuba. Er fährt Rad, spielt Tennis, läuft Marathon und geht Klettern. Außerdem arbeitet er ehrenamtlich beim Sportverein oder betätigt sich als Business-Angel. Selbstverständlich hilft er im Haushalt und serviert morgens seiner Frau liebevoll das Frühstück. Frau müsste sich also eigentlich freuen auf die gemeinsame Zeit der großen Freiheit. Sie müsste bereits jetzt ungeduldig in den Startlöchern scharren, Pläne schmieden, ja regelrecht taumeln in Vorfreude, ob der großartigen Aussichten.
Doch da gibt es leider die pensionierten Männer meiner Freundinnen und die zeigen ein ganz anderes Bild. Die sitzen meistens mittags noch im Pyjama vorm Fernseher und rufen in Richtung Küche: „Schatz, kannst Du mir einen Kaffee machen? Ich guck gerade Sportfernsehen und kann nicht weg hier“.
Freundin Kathrin, ihr Mann war Geschäftsführer bei einer Versicherung, kommt seit zwei Monaten nicht mehr in die Yogastunde. Also rief ich sie kürzlich an. „Mein Leben ist vorbei!“ meinte sie schluchzend und beschrieb mir in aller Tristesse ihr Leben an der Seite eines frischgebackenen Pensionisten. Der Göttergatte pflegt jeden Tag ausgiebig zu frühstücken, gönnt sich danach ein kleines Nachfrühstücksschläfchen, um daraufhin für eine Stunde oder mehr in der Tageszeitung zu versinken. Nach dem Mittagessen sieht er Kathrin mit strahlenden Augen an und fragt „Was machen wir heute?“. Sie schüttelt daraufhin ein kleines Freizeitangebot aus dem Ärmel, wie gemeinsam Radfahren oder Spazierengehen, worauf der Herr Gemahl ihren Arm tätschelt und meint: „Ist das nicht schön, dass wir jetzt so viel Zeit miteinander haben.“
„Ich hab kein eigenes Leben mehr. Er ist immer da. Immer!“ zischte Kathrin resigniert am Ende unseres Telefonats und auf die Frage, warum sie mit ihrem Mann nicht Tacheles redet, meinte sie „Du bist gut. Was wenn er dann einen Herzinfarkt bekommt?“
Carlas Mann wiederum, ehemaliger Unternehmensberater, weltweit tätig, sehr gut verdienend, hat im Ruhestand Computerspiele für sich entdeckt. Als zeitgleich mit seiner Pensionierung der letzte Sohn das Haus verließ, um endlich erwachsen zu werden, luchste Heinz seiner Carla das frei gewordene Zimmer ab. Eigentlich plante Carla dort ein Ankleidezimmer für sich. Nachdem der Gatte seinen Zimmerwunsch aber mit treuherzigem Blick und dem Satz „Ich werde mir da ein Büro einrichten, weil da wird es schon noch Projekte geben“, argumentierte, überließ sie ihm mit gutem Gefühl den Raum. Jetzt verbringt Heinz gefühlte zehn Stunden täglich in diesem Zimmer, vor seinem Computer. Er baut Dörfer, Burgen, sammelt Rohstoffe und bastelt an einem Heer. Sogar nachts muss er aufstehen um irgendwelche Aufträge zu erteilen. Carlas Mann führt Krieg. Seine Gegner sind irgendwelche andere Computersüchtige, die ebenfalls alleine in einem Zimmer sitzen, irgendwo in China, Deutschland oder Amerika. Sein Essen holt sich Heinz dreimal täglich aus der Küche, dann verschwindet er sofort wieder in Richtung seines Kriegsschauplatzes, nicht ohne Carla ein Küsschen auf die Wange zu hauchen mit den Worten „Es ist so wunderbar plötzlich Zeit zu haben für all die Dinge, die ich immer schon tun wollte.“ Auf die Frage, warum Carla ihm nicht sagen würde, dass sie sich die gemeinsame Zeit anders vorgestellt hätte, antwortete sie: „Ach weißt Du, so hat er wenigstens etwas zu tun und fällt in keine Leere“.
Bei Amelie sieht es auch nicht viel besser aus. Seit ihr Mann in Pension ist, sind unsere langen und lustigen Shoppingausflüge mit anschließendem Aperol passee. Jetzt wird sie beim Einkaufen von ihrem Ehemann begleitet. Er watschelt wie ein Hündchen hinter ihr her, trägt geduldig ihre Tüten und auf die wichtige Frauenfrage: „Und, steht mir das?“, sagt er prinzipiell „Steht Dir sehr gut, mein Schatz.“ Als würde eine Frau das beim Einkaufen hören wollen. Ob Wintermantel, Sommerkleid, Nachthemd oder Bauchweg-Unterhose, der pensionierte Schuldirektor ist immer an ihrer Seite. Das ist doch Horror, oder? Mein Alexander soll sich hüten!
Wohin ich auch schaue, weit und breit ist kein, wie von den Medien gezeichneter, agiler, lebenshungriger, eigenständiger Pensionist zu sehen. Verstehen Sie jetzt, warum ich mir Sorgen mache und mir Fürchterliches schwant?
Mein Mann Dr. Alexander Schiller ist Vorstandsvorsitzender in einer Bank. Er ist „the big Boss“, dirigiert mehrere hundert Mitarbeiter, fährt einen dicken Wagen und hetzt von Besprechung zu Besprechung. Seit mehr als vierzig Jahren.
Ich bin Ehefrau. Bis zu meinem Pensionsantritt vor einem Jahr habe ich in Teilzeit bei einem Rechtsanwalt gearbeitet. Ich arbeitete aus strategischen Gründen, wegen der Versicherungszeiten, für eine eigene Pension, nicht weil es notwendig gewesen wäre. Im Mittelpunkt meines Lebens standen deshalb, im Unterschied zu meinem Mann, immer Yoga, Malen, das Flanieren durch Museen, Shoppen, Treffen mit Freundinnen und Besuche in der Bücherei. Ich brauche viel Zeit für mich, bin gerne alleine, kann stundenlang lesen, Musik hören oder im Kaffeehaus sitzen und Menschen beobachten.
In 299 Tagen ist es damit aber vorbei. Da sitzt dann zu Hause Dr. Alexander Schiller, 65 Jahre alt, ehemaliger Workoholic, Mann ohne Freunde und ohne Hobbies. Ich kann ihn doch morgens nicht einfach alleine zurücklassen, wenn ich zum Yoga gehe und anschließend mit Mona auf einen Kaffee. Da ist doch nichts mehr in seinem Leben. Außer ich.
Alleine die Vorstellung, dass er in Zukunft täglich und ganztägig anwesend ist, macht mich ganz unruhig. So viel Nähe hält doch so eine alte Ehe gar nicht aus! Früher da arbeitete er fünfzig oder noch mehr Stunden in der Woche, da flog er auch mal beruflich weg für ein paar Tage. Frankfurt, London, eben an die Börse. Bald sitzt er nur noch zu Hause. Jeden Tag. Den ganzen Tag. Das kann doch nur in einem Desaster enden, da kann ich doch gleich die Scheidung einreichen.
Ich brauche einen Plan. Einen guten Plan. Einen geheimen Plan. In 299 Tagen den Ehemann pensionsfit machen und das eigene Leben retten. So in etwa könnte der Plan lauten. Häusliches Trainingslager für pensionsnahen Manager. Projekt Workoholic-Umerziehungsprogramm.
Na dann. Noch 299 Tage
Bei den Texten unter der Rubrik „Hilfe, mein Mann geht in Pension“ handelt es sich um ein Text-Experiment. Vielleicht wird daraus ein Buch, vielleicht nur eine Kurzgeschichte, vielleicht wird alles auch wieder verworfen. Ich freue mich über Eure Rückmeldungen, Kommentare und Reaktionen.
ortrud Stoff meint
Liebe Sonja!
Unbedingt weiter schreiben, bloß nicht alles verwerfen! So wirds uns allen gehen, wenn unsre Gatten in Pension gehen. Wie Sie ganz richtig schreiben: ER ist immer da, egal wie. Ob er Zeitung oder ein Buch liest, ob er am PC sitzt, ob er fern sieht zu den unmöglichsten Zeiten, ER ist einfach da und wir sollen irgendwie unser Leben umstellen, auch wenn ER das nicht sagt. Bitte führen Sie diese Geschichte fort, egal ob als Buch oder nur eine Erzählung – ich bin neugierig, was für einen Plan bzw. Pläne – man hat meistens Plan A und Plan B – Frau Hella haben wird!
Ich liebe Ihren Stil! Also unbedingt weiterschreiben. Ich bin gespannt und freue mich auf die Fortsetzung!
Ganz herzliche Grüße
Ortrud Stoff
Gertrud meint
Da tut sich wohl eine unendliche Vielfalt an Varianten auf, wie es sein kann und wie frau ( odervwohl eher paar) damit umgehen kann. Wird spannend!
Persönlich kenne ich den Pensionisten neben mir ja. Zum Glück agil, dynamisch und bereit zum Austausch :-)
Renate meint
Liebe Sonja,
ich bin gespannt auf die weiteren Folgen der Serie bzw. des Buches. Bei mir wird es anders herum sein. Ich gehe seit ewiger Zeit Vollzeit arbeiten. Mein Mann wird mehr als 5 Jahre früher in Rente gehen. Es graust mir vor den Zeiten, wenn ich morgens aufstehen muss und er zu Hause bleiben darf.
Ansonsten wohl dem, der auch vor der Rente schon ein Hobby und Interessen hat. Sonst fällt er in ein Loch!
Liebe Grüße
Renate
Zypresse meint
Meiner ist seit Weihnachten 2015 daheim und ich bereue das keinen Tag. Jeder von uns, der Mann und ich, tut nach wie vor, was er auch gern alleine tut – aber zusätzlich habe ich
* gelegentlich Gesellschaft beim gemütlichen Frühstück
* einen Partner für eine Radtour, kurzentschlossen
* einen Kellner für einen Espresso am Nachmittag
* jemanden, der mit mir im Garten bastelt und
haben wir gemeinsam Neues entdeckt
* wir kochen zusammen und probieren neue Gerichte aus
* plane ich unsere Reisen nicht mehr allein, nein wir teilen es uns
Mein Fazit: wenn man möchte und gemeinsam plant und überlegt ist der Ruhestandzusammen, gesund, tatendurstig etwas ganz Wunderbares. Also bitte nicht nur schwarz sehen!
Christa meint
Liebe Sonja,
wie du weißt gefällt auch mir die Art und Weise wie du schreibst sehr gut. Ich finde die Idee sehr gelungen. Selbst ohne Mann an meiner Seite und nicht unmittelbar betroffen, kenne ich diese Geschichten aus Erzählungen meiner Freundinnen. Da kann es schon mal passieren das während des Kafeeplausches mit der Freundin das Handy klingelt und ihr Mann frägt: „Wann kommst du und was gibt es zum Mittagessen?“ Als ob man ein Kind alleine zu Hause gelassen hätte.
Also ich glaube du hast genug Geschichten für dein zweites Buch. Ich freue mich auf eine Fortsetzung.
Uschi aus Aachen meint
Das ist eine wunderschöne Sache, diese Texte! Ich lese mit großem Interesse mit… (Als auch Frau eines Pensionisten. Er nennt sich allerdings Privatier, das ändert natürlich ALLES.) *grins*
Claudia Braunstein meint
Sonja, schreib bitte weiter. Das könnte tatsächlich spannend werden. Ich kenne im realen Leben eine große Zahl an sehr aktiven Pensionisten, die gibt es wirklich. Liebe Grüße, Claudia
Sonja Schiff meint
Danke Euch allen für Eure Rückmeldungen!!! Bald kommt das nächste Kapitel :-)