Nachdem es mir schon von mehreren Seiten wärmstens empfohlen worden war und ich in einigen Zeitungen schon das Buch lobende Rezensionen gelesen hatte, kam ich als Alternswissenschaftlerin nicht umhin das Buch Herr Katō spielt Familie auch zu lesen. Noch dazu, wo ich mich doch beruflich mit dem Übergang in den Ruhestand beschäftige, Pensionsvorbereitungsseminare durchführe und es bei diesem Buch genau um dieses Thema geht.
Gleich vorweg: Ein wunderbares Buch. Unaufgeregt, berührend und tiefsinnig.
Der erste Satz:
Als man ihm sagt, dass alles in Ordnung ist – keine Auffälligkeiten, nichts Besorgniserregendes – für sein Alter tipptopp – da empfindet er neben der Erleichterung eine insgeheime Enttäuschung.
Zum Inhalt:
Nun ist Herr Katō, nach viele Jahren voller langer Arbeitstage, denn er hatte eine wichtige Funktion inne im Unternehmen, in Pension. Während seine Frau sich längst aufgemacht hat, ein eigenes Leben zu entdecken (sie macht einen Tanzkurs), kann Herr Katō mit der vielen Zeit, die ihm plötzlich zur Verfügung steht, nichts anfangen. Mehr noch, er ist irgendwie überflüssig geworden. Die Anschaffung eines Hundes, es müsste ein weißer Spitz sein, verweigert seine Frau. Die erträumte Reise nach Paris, bleibt ein Traum. Mit seiner Frau verbindet ihn gerade noch die vage Erinnerung an den gemeinsamen Anfang, an das Kennenlernen, die ersten Jahre, an die Anfänge ihrer Elternschaft.
Um das Haus oben auf der Anhöhe, von dort hat man den besten Blick auf das jährliche Feuerwerk, kümmert sich zur Gänze seine Frau. Sie macht auch den Haushalt, wie all die Jahre zuvor. Die beiden Eheleute hatten immer eine klassische Rollenverteilung gelebt. Er brachte das Geld nach Hause, „weil sich so ein Haus nicht von alleine abbezahlt“, seine Frau zuständig für Essenszubereitung, die Wäsche, Kinder und Putzen. Mit dem Pensionseintritt hat Herr Katō seine wichtige Rolle verloren. Nun ist er nicht nur unwichtig geworden, ihm ist auch noch langweilig. Also streunt er tagsüber ziellos und ohne Plan durch die Stadt.
Auf einem dieser ausgedehnten Spaziergänge, genaugenommen auf einem Friedhof, begegnet er der jungen Mie. Sie engagiert ihn vom Fleck weg als Stand-In, als eine Art Schauspieler, der auf Familienfestlichkeiten, bei völlig fremden Menschen, jenen Angehörigen spielt, der, aus welchem Grund auch immer, nicht anwesend sein kann. Nach einigen Tagen des Zögerns, stimmt er dem Angebot der jungen Frau zu. Er übernimmt seine erste Rolle. Sie wird ihm von Mie, bei einem kurzen Treffen, auf einem Diktafon übergeben. Er soll Herrn Katō spielen, den Großvater eines Jungen. Der richtige Großvater hatte die Tochter verstoßen, als sie bekannt gab schwanger zu sein von einem afroamerikanischen Mann, deshalb hat er seinen Enkelsohn noch nie gesehen. Nun trifft Herr Katō den Jungen und seine Mutter, geht mit ihnen nach Hause, spielt den fürsorglichen und liebenden Großvater. Für einen Nachmittag. Später, in weiteren Rollen als Stand-In, mimt er einen Ehemann, der nur schweigen soll, zuhören und manchmal die Ehefrau beim Namen nennen, sowie einen Firmenchef, der zur Hochzeit eines Mitarbeiters eingeladen ist und dort eine Rede halten soll.
Obwohl Mie strenge Regeln aufstellt für den Stand-In Herrn Katō, etwa die Regel „Wir erinnern uns nicht an die Menschen, die uns gestern nah gewesen sind“ oder die Regel „Wir nehmen nichts persönlich“, wirken seine Rollen doch in sein eigenes Leben hinein und verändern dieses Leben nachhaltig. Bald beginnt er sich zu fragen, ob vielleicht die anderen Menschen, die er in seinen Rollen trifft, in Wahrheit die eigentlichen Stand-Ins sind, engagiert, um ihn zu unterhalten und zum Nachdenken zu bringen.
Zur Autorin:
Milena Michiko Flašar ist 1980 in St. Pölten, als Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters, geboren. Sie studierte in Wien und Berlin Germanistik und Romanistik. Ihr Roman „Ich nannte ihn Krawatte“ wurde über 100.000 Mal verkauft und mehrfach ausgezeichnet. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Wien.
Meine Gedanken zum Buch:
Ich gebe zu, am Anfang tat ich mir schwer mit dem Buch. Dieser Herr Katō ist nämlich ein Spießer und eine Nervensäge obendrein. Gebeutelt vom Pensionsschock nervt er seine Frau mit Banalitäten, Vorwürfen und Machogehabe. Ich musste echt auf die Fachebene der Alterswissenschaftlerin gehen beim Weiterlesen, sonst hätte ich diesen unsympathischen Typen weglegen müssen. Irgendwann aber war ich berührt und betroffen, einige Male war mir auch laut zum Lachen.
Das Thema Ruhestand kommt in der Literatur meistens als Ratgeber daher oder als, die Probleme am Pensionseintritt ironisierender Roman. Nicht so Herr Katō spielt Familie. Hier handelt es sich um ein belletristisches Werk mit viel Gefühl für das Thema und auch großem Fachwissen. Super verpackt in dem Roman, und an einer Stelle auch kurz genannt und ausgeführt, ist das Retired Husband Syndrom, zu deutsch „Mann im Ruhestand-Syndrom“. Es handelt sich dabei um eine psychosomatische Erkrankung, von der vor allem Frauen in traditionellen Ehen betroffen sind, deren vorher vielbeschäftigter Mann in Pension geht. Die plötzliche Daueranwesenheit des Mannes wird als Stress erlebt. Die betroffenen Frauen zeigen Symptome wie Schlaflosigkeit, Asthma, Hautirritationen bis hin zu Herzbeschwerden. Das RHS wird in Japan, dort wurde es wissenschaftlich entdeckt, in Zusammenhang gebracht mit der gestiegenen Scheidungsrate bei Pensionisten.
Berührend, manchmal auch erheiternd und sogar verstörend, fand ich das Phänomen der Stand-Ins. Familienmitglied spielen. Irgendwie abartig die Vorstellung! Ich dachte das wäre eine Erfindung der Autorin, aber in einem Interview meint sie, Stand-Ins erfreuen sich in Japan großer Beliebtheit.
Das Buch und auch Herr Katō selbst eroberten nach und nach mein Herz. Das Buch, weil es sich wirklich der großen Fragen des Ruhestandes annimmt: Wer bin ich, wenn ich nicht mehr arbeite? Wer bin ich, wenn ich in dieser Gesellschaft nichts mehr leiste? Herr Katō berührte mich mit der Hilflosigkeit in seiner neuen Lebenssituation, mit seiner Ernsthaftigkeit „Familienmitglied zu spielen“ und seinem Unvermögen, sich dabei persönlich abzugrenzen und mich verzauberten seine Versuche das Lächeln zu erlernen, ein Auftrag dem ihm die junge Mie gab. Am Ende fühlte ich mit dem Helden und war sogar ein wenig traurig, als das Buch endete.
Herr Katō spielt Familie
Milena Michiko Flašar
164 Seiten, Verlag Wagenbach
Dieser Artikel ist keine Werbung. Ich habe weder das Buchexemplar vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, noch wurde ich für die Verfassung der Rezension in irgendeiner Weise honoriert. Das Buch habe ich gelesen und rezensiert, weil mich als Alternswissenschaftlerin das Thema des Buches – der Übergang in den Ruhestand – interessiert.
Bess meint
Hoffentlich schafft die Bücherei das Buch an!
Ich habe von Milena Michiko Flašar schon gelesen „Ich nannte ihn Krawatte“ und fand es sehr einfühlsam, Erleben und Gefühle werden sichtbar, ohne dass die Sprache überbordet. Sie ist leise und ruhig.