Eigentlich wollte ich den Bestseller Alter ist eine Illusion von Michael Lehofer nur lesen, weil es darin halt ums Thema Alter geht und dachte, als bloggende Alternswissenschaftlerin sollte ich dazu meinen Senf abgeben. Pflichtprogramm sozusagen. „Zum Glück kann ich die 19,99 Euro steuerlich absetzen“ ging mir noch durch den Kopf und „Ratgeber hasse ich ja eigentlich wie die Pest“, als ich halbherzig das Buch kaufte.
Tja, da habe ich mich aber gründlich getäuscht. Ihr wisst schon, man bekommt oft genau jenes Buch, welches man gerade besonders dringend braucht, es gibt keinen Zufall, und so.
Was für ein wunderbares Buch! Allerdings weniger aus alternswissenschaftlicher Sicht. Da finde ich es inhaltlich teilweise fast unangebracht, Stereotypien bezüglich „was ist alt?“ und „was ist jung?“ verstärkend. Als Alternswissenschaftlerin ging mir der Tenor des Buches teilweise ordentlich auf die Nerven.
Aber was die geistigen Abgründe des Menschen betrifft, wie wir als Homo Sapiens so ticken, wie wir geprägt werden, wie wir uns unsere Realität konstruieren, wie wir Illusionen aufbauen, wie wir uns selbst behindern und uns selbst das Leben so richtig schwer machen und welche Wege es geben würde aus all den Verstrickungen und Verwicklungen herauszufinden, davon erzählt dieses Buch auf dichte und, trotz komplexer Zusammenhänge, spannende und verständliche Weise.
Mir persönlich hat das Buch zur richtigen Zeit die richtigen Fragen zugetragen und damit wesentlich dazu beigetragen, ein bestehendes emotionales Glücksdesaster endlich konstruktiv zu verarbeiten und zu lösen.
Aber der Reihe nach….
Der erste Absatz
Das Alter ist ein Lebensabschnitt, den zu erreichen, sich die meisten von uns erhoffen. Ein langes Leben – in fast allen Sprachen dieser Welt wünscht man so „Alles Gute zum Geburtstag“. Mit jedem Jahr, in Wirklichkeit mit jedem Tag, wird unser Wunsch quasi auf leisen Sohlen mehr und mehr Realität. Alter geschieht, wenn nichts dazwischenkommt, von ganz allein. Ein Grund zur Freude, sollte man meinen. Immerhin erfüllt sich ein sehnlicher Wunsch.
Zum Inhalt
Das Buch trägt den Titel Alter ist eine Illusion und den Untertitel „Wie wir uns von den Grenzen in unserem Kopf befreien“. Wenn man das Buch im Detail betrachtet, geht es eigentlich mehr um das, was der Untertitel verspricht. Es geht, im Großen und Ganzen, um das Thema der Konstruktion des eigenen Lebens, frei nach dem Motto: Du bist was du denkst und dein Denken kannst du verändern.
In vielen kleinen Kapiteln mit Überschriften wie „Von der Schande, alt zu werden“ über „Bindungen sind unser Lebenselixier“ oder „Krisen sind Zeiten der Neuordnung“ und „Was es bedeutet, ein sinnliches Leben zu führen“ werden wichtige Entwicklungs- und Wachstumsthemen des Menschen angesprochen.
Aufgehängt ist dieser Inhalt am Thema Alter und älter werden. Allerdings nur scheinbar. Denn eigentlich geht es in diesem Buch darum, wie man jung bleiben kann, obwohl man altert. Diese Intention des Buches wird dann auf der Rückseite des Klappentextes auch beim Namen genannt: Den Quell ewiger Jugend finden.
Zum Autor
Michael Lehhofer ist Arzt, genaugenommen Psychiater, Psychologe und Psychotherapeut. Er arbeitet als ärztlicher Direktor und Leiter einer Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie in Graz, außerdem ist er als Führungskräftecoach, Philosoph und Buchautor tätig.
Mein Blick aufs Buch als Gerontologin
Vorweg: Ich ziehe meinen Hut vor Lehofer, weil er es verstanden hat komplexe Inhalte, auch alternswissenschaftlicher Natur (Altern ist ein Prozess! Alter ist ein Konstrukt!), allgemein verständlich und spannend zu kommunizieren. Da tut sich Wissenschaft, da tun sich Fachpersonen, in der Regel sehr schwer. Also, dafür Chapeau!
ABER: Als jemand, der seit Jahren versucht, trotz langjähriger Arbeit in der Altenpflege, den Themenkomplex Alter/ älter werden/ alt sein positiv darzustellen, den Menschen Ängste vor dem Altern zu nehmen und Lust zu machen auf ein spannendes Leben jenseits der Jugendlichkeit, ist das Buch eine Enttäuschung. Mehr noch, aus dieser Sicht ist das Buch ein Verrat.
Was auf den ersten Blick, vor allem wegen des Titels, wie ein positives Buch über das Älterwerden daherkommt, ist im Prinzip ein Buch mit dem Aufruf „Bleib um Gottes Willen jung“. Kapitel um Kapitel weist der Autor dem Alter negative Eigenschaften zu wie Beharren auf Meinung, Verbitterung, Jammern, nicht zuhören können, beleidigt sein vom Leben, Selbstmitleid und viele andere mehr, während er dem Begriff „jung“ positive Eigenschaften zuordnet. Jung bleibt man, auch wenn man schon viele Jahre gelebt hat und eigentlich alt ist, wenn man trotz Alter keine Angst vor Veränderungen hat, keine Angst vor dem was kommt, wenn man auch mit 100 im Moment und der Gegenwart lebt, um nur einige der genannten Eigenschaften zu nennen.
Jung wird in diesem Buch positiv besetzt, alt negativ, es gibt junges Verhalten und altes Verhalten. Wer alt ist, aber jung bleiben will, darf sich nicht „alt verhalten“. Das geht sogar so weit, dass so wichtigen Dinge wie Wachstum und Weiterentwicklung, die vor allem durch die gelebten Jahre und gemachten Lebenserfahrung stattfinden, dem Prädikat jung zugeordnet ist. Wer alt ist, dabei immer weiter wächst und reift, ist jung. Was jetzt in diesem Blogbeitrag schon kompliziert klingt, ist es auch im Buch. Man ist verwirrt. Und man stellt sich, vor allem als Alternswissenschaftlerin, die Frage: Warum verdammt noch mal muss ich jung bleiben, wenn ich alt bin? Und warum gibt es in diesem Buch keine positiven Assoziationen zu Alter? Ich kann alt sein UND wissbegierig. Ich kann alt sein UND dankbar für das gelebte Leben. Ja, ich kann sogar steinalt sein UND interessiert an Neuem. Spontan fällt mir dazu Iris Apfel ein, deren Buch ich hier schon rezensiert habe. Sie ist alt, weit über 90, und sowas von kreativ und involviert ins Leben. Aber sie sieht sich nicht als jung. Sie ist alt. Und verdammt stolz drauf.
Als Alternswissenschaftlerin, aber auch als mittlerweile 55 jährige Frau, bedaure ich den Weg, den Michael Lehofer mit diesem Buch eingeschlagen hat. Das hätte nicht sein müssen, das wäre anders möglich gewesen. Und ich finde, das entspricht auch dem Autor und dem eigentlichen Inhalt des Buches so gar nicht. Schade!
Kleiner Gedanke dazu: Vielleicht war es die Marketingabteilung des Verlages, die meinte, man muss unbedingt jene Leserschaft bedienen, die Angst vorm Altwerden hat und eben eines will: Jung bleiben. Wenn es so war: Gelungen! Das Buch ist ein Bestseller geworden.
Mein persönlicher Blick aufs Buch
Abgesehen von dem nervenden Unsinn der alt-jung-Zuschreibungen, ist das Buch aber ein wahrer Schatz. Es geht darin ums Mensch sein und ums Leben, um die vielen Möglichkeiten das Leben zu sehen, es geht um Lebenshaltungen, um Wachstum bis zu letzten Lebenssekunde. Lehofer beschreibt, wie wir vom Leben geprägt werden, wie wir daraus unsere Hoffnungen und Ängste entwickeln, unser Leben und uns selbst deuten, konstruieren und er zeigt Wege auf, wie wir uns aus diesen Konstruktionen befreien und zu uns selbst finden können.
Mich hat das Buch in einer schwierigen Lebensphase gefunden, siehe diesen Blogbeitrag. Ich haben beim Lesen viele Fragen bekommen, die mich ins Nachdenken führten und meine Selbstreflexion bereicherten. So kam ich zu Antworten und letztlich zu einer Entscheidung.
Das erste Mal seit langer Zeit, habe ich in einem Buch wieder Markierungen angebracht, weil mich Gedanken wirklich in den Bann zogen und nachdenken ließen. Hier ein paar dieser Zitate:
Nähe kann sich nur der erlauben, der sich seiner selbst sicher ist.
Jede Freundschaft ist eine Liebesbeziehung.
Wenn mich ein Freund verraten hat, dann muss er deshalb nicht kein Freund sein.
Die chronische Angst, der chronische Schmerz sind Resultate unserer Neigung, die Illusion mehr zu lieben, als die Wirklichkeit. Es tut uns mitunter mehr weh, die Möglichkeiten hinschwinden zu sehen, als die Wirklichkeit zu verlieren.
Gefühle sind laut. Liebe ist leise.
Wenn wir so leben, als ob es unser letzter Tag wäre, und so als ob wir ewig lebten, verdichten und erweitern wir unser Leben.
Mein Fazit
Ich hätte deshalb diesem im Grunde wunderbaren Buch einen anderen Titel gegeben. „Wie Du neugierig und wach steinalt werden kannst“ oder „Lebe dein Leben bis zur letzten Lebenssekunde“.
Aber damit wäre es wahrscheinlich kein Bestseller geworden. Das interessiert nämlich die ewig jung bleiben Wollenden nicht. Sie bleiben lieber bei der Illusion, dass man sich nur „jung“ verhalten muss, um nur nicht alt zu werden.
Alter ist eine Illusion
Michael Lehofer, mit einem Vorwort von Gerald Hüther
190 Seiten, GU-Verlag
Dieser Artikel ist keine Werbung. Ich habe weder das Buchexemplar vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, noch wurde ich für die Verfassung der Rezension in irgendeiner Weise honoriert.
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