Heute ging es für mich nach drei Monaten in Ungarn, meinem zweiten Zuhause, wieder zurück nach Salzburg. Mit dem Zug, der Straßenbahn, dem Bus, inklusive Aufenthalt am Westbahnhof und einem Termin in St. Pölten. Abfahrt 9.30 in Pamhagen, Ankunft in Salzburg um 19 Uhr. 10 lange Stunden sind Flüchtlinge DAS Thema.
Im Zug von Pamhagen nach Neusiedl jammert eine Ungarin lautstark einer alten Österreicherin vor, dass die böse EU Ungarn im Regen stehen lässt, dass die westliche Propaganda ihr Land Ungarn schlecht macht, dass Europa gerade Selbstmord macht, weil es die Menschen zu uns lässt, die „nicht zu uns gehören“. Dabei betont sie, dass der Selbstmord ein langsamer sein wird und grausam und macht mit den Händen eine Bewegung, die andeuten soll, dass Europa sich gerade erhängt.
Am Hauptbahnhof Wien ein paar Flüchtlinge umringt von Polizisten, die freundlich Erklärungen abgeben. Ein junger Flüchtling um die 30 erhascht meinen Blick, ich sende ihm ein Lächeln. Ob es ihn erreicht hat, weiß ich nicht, denn er senkte scheu seinen Kopf.
In der U3 hitzige Diskussionen. Eine Gruppe junger Männer meinen, der HC wird „die alle schon wieder vertreiben“. Eine Gruppe älterer Frauen, Marke Hausmeisterinnen, lästert über den Müll am Westbahnhof. Als eine Frau in einem Nikab mit Kinderwagen einsteigt. Schweigen. Ihr kleiner Sohn streckt den glotzenden Frauen die Zunge entgegen. Ich lache schallend.
Westbahnhof. Eine Gruppe Flüchtlinge geht in einer Art Zweierreihe hinter einem Polizisten her. Wir haben das gleiche Ziel. Die Westbahn. Also reihe ich mich ein und steige mit den jungen Männern in den Zug. Ich erhasche einen Platz neben einer aufgetakelten Blondine. Diese erklärt mir unaufgefordert, dass sie normalerweise immer eine ganze Bank für sich alleine hätte, aber wegen der Flüchtlinge wäre jetzt immer alles so unangenehm voll. Als ein sehr müde wirkender Flüchtling mit einem Kleinkind am Arm an mir vorbeigeht, stehe ich auf und überlasse ihm meinen Platz. Er strahlt mich an und ich grinse der Blondine breit ins Gesicht. Der Flüchtling heißt Harun, seine kleine Tochter Alima, sie stammen aus Aleppo. Vor dem Krieg war Harun Arzt, Neurochirurg. Er ist seit 4 Monaten unterwegs, will nach Berlin. Dort hofft er seine Frau zu finden und die beiden Söhnen. Diese saßen in einem anderen Boot, als sie über das Mittelmeer fuhren.
St. Pölten. Im Bus zu meinem Termin. Die Hälfte der Frauen im Bus trägt Kopftuch. Die dicke Frau neben mir flüstert „In ein paar Jahren müssen wir alle Kopftuch tragen. Verlassen Sie sich drauf“. Ich steck mir meine Kopfhörer ins Ohr und umhülle mich gedanklich mit hellem Licht und Liebe.
Westbahn von St. Pölten nach Salzburg. Mein Gegenüber, zwei mittelalte Herren in Pseudotracht, direkt neben mir ein unscheinbarer blonder junger Mann. In der Reihe neben uns sitzen sich vier männliche Flüchtlinge gegenüber, müde, schweigend aber mit gelöstem Gesichtsausdruck. Die beiden Herren in der Pseudotracht predigen lauthals den Untergang der Welt herbei, weil Millionen Araber in unser Land einfallen werden, dazu jede Menge IS-Krieger. Die Welt steht aus ihrer Sicht nicht mehr lang. Ich bin froh, dass die vier Flüchtlinge nicht deutsch sprechen. Als die Ticketverkäuferin vor den Flüchtlingen steht und die Karten lösen will, reicht deren Geld nicht für alle vier Tickets. Der unscheinbare blonde Mann neben mir fragt, wie viel fehlen würde. Es sind 30 Euro. Wir teilen uns den Betrag. Einer der dunkelhaarigen Männer wischt sich verstohlen eine Träne aus dem Auge. Die alten Säcke schweigen bis Salzburg.
Angekommen zu Hause erzählt mir eine Nachbarin, eine eigentlich warmherzige Frau, dass in Jordanien 500.000 Menschen in Flüchtlingslagern sitzen würden und nun im Fernsehen und im Internet sehen würden, wie Flüchtlinge bei ihrer Ankunft in Europa mit Klatschen begrüßt werden. Sie alle würden sich deshalb jetzt auf den Weg machen.
Angst frisst Seele auf.
Ich umhülle mich mit hellem Licht und Liebe.
rochus gratzfeld meint
Ein phantastischer Artikel, liebe Sonja. Ja. 1974 wurde der fast gleichnamige Film von Fassbinder in München uraufgeführt. 1974 – 1989 – 2001 – 2015. Angst nagt wieder an den Seelen. Sehr viele Menschen aber wollen sich die Seele nicht wegfressen lassen. Sie handeln, wie du handelst. Andere wissen mit dem Angsttumor nicht umzugehen. Sie reagieren mit Verwirrung, mit Verweigerung, mit Hass. Die Welt verändert sich gerade. Machtvoll. Wie ein Sturm. Und es wird noch ein Orkan werden. Offenheit, Liebe, Hilfsbereitschaft sind die wichtigsten Schutzschilder dagegen. Nicht Zäune.
Gabriele meint
Liebe Sonja, du hast es auf den Punkt gebracht- die Angst frisst leider nicht nur die Seele auf, sondern auch das Herz, das Mitgefühl und manchmal leider auch den Verstand. Die die helfen sind bescheiden und unscheinbar. Ich bin seit Juni im Flüchtingseinsatz und kenne so viele Menschen die ohne viel Worte helfen und so viele die kopfschüttelnd daneben stehen und uns so anschauen als ob wir die Is unterstützen würden. Angst frisst eben nicht nur die Seele.
Sonja Schiff meint
ich weiss…… war auch in nickelsdorf im einsatz…..hab das gleiche erlebt. danke für dein engagement!
Monika Krampl meint
Liebe Sonja, ja – Licht und Liebe …
Ich danke Dir sehr herzlich für Deine Worte.
Ich kann und will nichts dazu sagen. Ich bin sprachlos geworden in den letzten Tagen – vor Entsetzen und Trauer.
Obwohl ich sehe, wieviel Gutes auch zum Vorschein kommt – wie viel Empathi und Solidarität vorhanden ist.
Danke auch Dir, Rochus Gratzfeld – ja, Angst frisst Seele auf …
Es ist schön, dass es Menschen wie Euch gibt – Danke!
Monika
Sonja Schiff meint
ich bin auch oft sprachlos……. über die hetzer….aber zum glück auch oft über menschen, die helfen.
István Bessenyei meint
Westungarn, Dorfidylle. Wasserleitungmonteur zu mir: „Ich habe schon meine Axt vorbereitet., falls die Flüchtlinge bei mir einbrechen. “ Ich: „Und wen tötest du zuerst? Kind, Frau, Mann?“ Keine Antwort. Eine Lehrerin aus dem Dorf. „Die Muslime köpfen die Christen ab. Ich habe Angst“ Dabei sieht man bei uns weit und breit gar keine Muslime. .“ Junger, 22jähriger Ungar, arbeitet bei mir. „Ich bin im Zug gefahren. Und – stell dir vor – 10 Flüchtlinge haben einen Abteil für 6 Personen besetzt, und sie stanken. Ekelhaft.“
Ich bin ratlos. Argumente gegen Vorurteile, Gefühle? Wirkt nicht.
Nächter Versuch: Ich erzähle meine eigene Geschichte. Mit 2 Jahren war ich schon selbst Kriegsflüchtling. Meine Eltern sind von Südungarn richtung Norden geflüchtet, nich wissend, dass die Sowjetarmee nich nur vom Süden kommt. Direkt rein in eine Panzeschlacht. Ein rumänischer Lokführer hat uns bis Oradea gerettet. Ohne Bezahlung, am Plateau der Dampflok. (In der Zwiswchenzeit haben unsere ungarischen Nachbarn unsere Wohnung ausgeraubt. Nich die Sowjetarmee.)
Die Geschichte hat keine Wirkung. Null Empatie.
Währenddessen spricht unser kleiner Diktator im Fernsehen vom Aufstand der Flüchtlinge. Und von der Armee, vom Einsperren.
Das aber wirkt. Das gefällt.
Angst? Eher Scham.
Sonja Schiff meint
ach istván…. :-( …. aber es gibt auch andere! auch in ungarn helfen menschen. vergiss das nicht.
rochus gratzfeld meint
István, ob der „Kleine Diktator“ wirklich an der Macht bleiben wird? Seien wir ganz ehrlich. Ungarn hängt derzeit an den Infusionen der EU. Das bedaure ich. Denn die Ungarinnen und Ungarn sind ein starkes Volk. Jedoch von der Geschichte geprügelt. Und auch die postkommunistischen Regierungen haben versagtl Ich beobachte und liebe Ungarn ja bereits seit Mitte der 90er Jahre – nichts gegen deine Erfahrungen. Aber. Zurück zur EU. Ich begreife Orbán als einen Mann, der solange stramm auf die Füße anderer tritt, bis zurückgetreten wird. Die EU hat alle Mittel, sehr wirkungsvoll zurückzutreten. Ich hoffe, sie wird dies auch sehr bald tun. Aber bitte nicht gegen das Volk, wie bei der Finanzkrise. Sondern gegen die Verursacher und deren Schergen.
rochus gratzfeld meint
Danke, Monika!