Kürzlich habe ich in einer Krankenpflegeschule mein Buch vorgestellt. Als ich zu Beginn einen Überblick gab über meinen Berufsweg und dabei erzählte, dass ich mein Diplom zur Krankenschwester im Jahr 1988 gemacht hatte, flüsterte vorne in der ersten Reihe eine sehr junge Frau zur anderen: „Hast gehört? 1988! Booaaahhhh. Da war ich noch nicht einmal geboren!“
Natürlich wusste ich in dem Moment, dass da junge Küken vor mir sitzen. Keine Frage. Als Gerontologin weiß ich auch, dass wir uns im Schnitt 10 Jahre jünger fühlen als wir tatsächlich sind und von meinen alten Patientinnen in der Altenpflege habe ich gelernt, dass man innen drin, also in seinem Herzen, nie alt wird, dass die Seele kein Alter kennt. Diesem Phänomen habe ich in meinem Buch ein ganzes Kapitel gewidmet.
Es traf mich also nicht unvorbereitet. Und doch traf es mich. Völlig unvorbereitet. Dieses junge Mädchen, meine angehende Pflegekollegin, war noch nicht geboren als ich diplomierte. Sie war noch ein Fünkchen Staub im All, als ich bereits verheiratet war, mich durch die verdammte Gymnasiumzeit gequält hatte, danach die Ausbildung im Krankenhaus mit all seinen schrägen und teilweise abartigen Hierarchien absolviert hatte, nachdem ich mir einen Kampf mit dem ärztlichen Leiter geliefert und, ganz am Ende, doch gewonnen hatte. Dieses junge Mädchen flog zu der Zeit noch mit den Mücken! Sie war noch nicht da.
Ist das Leben nicht irgendwie eine unfassbar surreale und irreale Angelegenheit? Ich meine, klar weiß ich, dass wir alle sterben müssen, dass ich irgendwann sterben muss. Natürlich weiß ich, dass es ein Davor gibt, ein Mittendrin und ein Danach. In meinen Gehirnwindungen ist das abgespeichert. Aber begreifen, fühlend begreifen, in meinem Innersten verstehen, kann ich es immer noch nicht und je älter ich werde, umso surrealer wird diese Fahrt durchs Leben, wird das Leben an sich für mich. Irgendwann wird es mich, nicht mehr geben. Einfach so. Ich bin dann eben einfach mal weg. Für immer. Bekommt Ihr das, Euch betreffend, in Euer Hirn?
Da wuseln wir 7,3 Milliarden Menschen über diesen kleinen, kranken und wunderbaren Planeten, der durch ein unendlich weites schwarzes Weltall fliegt, dessen Anfang und Ende wir nicht kennen, von dem wir keine Ahnung haben und das zu bereisen Millionen Jahre dauern würde. Wir glauben wichtig zu sein, reden von Individualität, drehen uns unser halbes Leben um uns selbst, plustern uns dabei auf und hetzen durchs Leben, streben nach Geld, Macht, Luxus und Unterhaltung. Gleichzeitig sind wir so unwesentlich wie ein Staubkorn. Ja, sind wir nicht mehr als ein Staubkorn.
Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Immer und immer wieder die gleichen Fragen. Manchmal finde ich Fragmente von Antworten. Aber eine Lebenssekunde später stehe ich schon wieder nackt und unwissend vor mir selbst.
Vor einiger Zeit sah ich einen Bericht über Bienen. Der Forscher meinte, die Biologen würden bei den Bienen den Begriff Organismus überdenken. Es stellt sich Frage, ob weiterhin die einzelne Biene als Organismus zu betrachten ist oder vielmehr der ganze und komplexe Bienenstock, denn eine Biene alleine kann nicht überleben. Wie ist das dann mit uns Menschen? Einer alleine würde doch auch nicht überleben. Niemals! In der Masse aber verhalten wir uns wie ein Virus, verbreiten wir uns mehr und mehr, machen diese Erde krank und kränker und träumen sogar davon irgendwann auf andere Planeten auszuweichen und auch diese dann „uns untertan zu machen“ und zu zerstören. Wir nennen das „Zukunftsmaßnahmen, um als Spezies zu überleben“.
Diese junge Frau war noch nicht da, als ich bereits durchs Leben tobte. Ich werde nicht mehr sein, wenn sich diese junge Frau dann, etwa in meinem Alter jetzt, ihre Fragen des Lebens stellt. Und sie wird dann wieder einer anderen jungen Frau begegnen, die ihr ihrerseits den Spiegel vorhält und diese….
Was so eine kleine Begegnung an Gedanken auslöst. Mir schwirrt grad mein Gehirn.
Das Leben ist eine surreale und verrückte Angelegenheit und dieser Gott, den es angeblich gibt, hat entweder viel Sinn für Humor oder er ist ein Sadist.
Maria meint
Liebe Sonja,
ich glaube ja, dass zum (Über-)Leben vor allem auch ganz viele Schutzmaßnahmen gehören…. Und tatsächlich hat es – zumindest bei mir – was mit dem Alter zu tun, diese klug „vorprogrammierten“ Maßnahmen auch zulassen zu können. Was ich meine:
1. Eine dieser Schutzmaßnahmen ist das Vergessen. Was du als „eine Lebenssekunde später“ beschreibst, das ist so was. Eine Erkenntnis fliegt dich an – und fast sogleich ist sie wieder vergessen. Dass dir der Kopf schwirrt, kommt m.E. daher, dass du nicht schnell genug vergessen hast, vergessen kannst – oder magst…. Und da wird es schon haarig:
2. Der Verstand will natürlich alle Erkenntnisse behalten…. Doch im Gegensatz zu Bienen – die sehr gut sammeln und behalten können – können wir es vermutlich schlicht nicht aushalten, all diese (oftmals ja auch noch alles in Frage stellenden) Erkenntnisse zu sammeln, zu horten und dann auch noch unser Leben lang zu spüren, zu begreifen…. Ich mach manchmal ganz absichtlich ein „Reset“, um den Speicher wieder so leer wie möglich zu kriegen. Nur dann kann ich nämlich im Jetzt und Hier leben, „schon wieder nackt und unwissend“, wie du so schön schreibst. Und das Hier und Jetzt, das will ich. Definitiv. Da fühl ich mich besser als mit überlastet schwirrendem Kopf (komisch, die ganze Zeit seit dem Lesen deines Textes hab ich das Gefühl, Bienen summen zu hören!)
3. Und das Alter kommt m.E. dann ins Spiel, wenn ich beschließen DARF, den Reset-Knopf zu drücken, wenn ich mir das überhaupt erlaube… Also, ich hab dafür sehr lang gebraucht. Ich dachte immer: Ich muss das aushalten, ich muss wachsen, darf keine einzige Erkenntnis verlieren. Und doch passierte es – natürlich – ständig. Wenns ganz schlimm kommt, denk ich dann auch noch: Ich hab versagt, bin doof und muss darum immer wieder bei Null anfangen. Das ist Blödsinn. Ich würde vermutlich schlichtweg explodieren, wenn ich all diese Erkenntnisse jede Sekunde so intensiv erkennen/spüren könnte. Das geht eben nur ein bis zwei Sekunden lang. Und danach muss ich eine andre „Aufbewahrungsart“ dafür finden… Bei mir ist es so was wie die Ahnung des innersten Zusammenhangs aller Dinge…. So ein Grundrauschen an Erkenntnis, könnte man auch philosophisch-mystisch ausbauen, das erspar ich dir jetzt… Damit ist aber „Erkenntnis“ schon auf einer „Meta-Ebene“. Und das ist was, das hab ich in meiner Jugend gar nicht akzeptieren können. Da musste es laut und intensiv sein. Immer. Sonst hab ich mich nicht lebendig gefühlt… Tatsächlich bin ich damals aber auch das ein oder andre Mal regelrecht „explodiert“. Das halte ich jetzt einfach nicht mehr aus. Und manchmal bin ich froh drum….
Ach, liebe Sonja, ich ernenne dich zur Muse meines heutigen Tages…. Denn ich merk grad: Das ist DER Aufhänger, um mich endlich meiner Rubrik „Entschleunigung“ zu nähern. Diesen „Aufhänger“ such ich schon eine Weile. DASS es diese Rubrik in meinem Blog „Unruhewerk“ überhaupt gibt, das hat was mit diesem „Grundrauschen“ zu tun. Ich wusste, das Thema kommt noch… Ich werd mich also demnächst dort direkt auf diesen Text hier beziehen… Du weisst ja: Ich wünsch mir Dialoge im Netz, keine Monologe. Und mit dir – und einem solchen Text – einen Dilog zu beginnen, das ist – traumhaft!
Lieben Dank dafür
und herzliche Grüße
Maria
Sonja Schiff meint
Wenn die Gehirnwindungen so davon segeln, dann verliert man echt ganz schön das Hier und Jetzt aus den Augen. Zum Glück hab ich im Moment so viel zu arbeiten, dass ich aus diesem Gedankenkarussell eh immer wieder abspringen muss. Aber abends lass ich mich im Moment gern hineinkippen. Bin nämlich Strohwitwe derzeit und hab jede Menge Zeit mich zu entschleunigen und nachzudenken. Danke für Deine ausführlichen Gedanken und…. ich liebe es Deine Muse zu sein :-)
Karin Austmeyer meint
Ja liebe Sonja, dieser ewige Kreislauf.
Seit dem Tod meines Mannes frage ich mich extrem, ob dieses Leben im NICHTS endet oder ob da noch etwas kommt. Bernd hatte mir versprochen, sich bemerkbar zu machen bzw. mir zu helfen, wenn ihm das möglich ist. Manchmal glaube ich: Jetzt hat er mir geholfen. Oder ist das nur Zufall? Manchmal denke ich, ich spüre seine Anwesenheit oder ist das nur Einbildung? Ich weiß es nicht und ich denke sehr viel darüber nach.
Ich sehe wie ich älter werde, aber ich fühle mich nicht so. Ich weiß, die Zeit, die mir noch bleibt ist kürzer als meine Lebenszeit bisher. Welche schockierende Erkenntnis.
Ich darf – wir dürfen uns aber nicht so sehr in Gedanken verlieren und darüber vergessen zu leben. Trotz aller, teilweise sehr schlimmen Dinge die passsieren, das Leben ist schön und will bis zum letzten Atemzug gelebt werden.
Diese jungen Dinger werden sich vielleicht später, wenn du nicht mehr auf dieser Erde weilst, an dich erinnern. Vielleicht ist das, das Weiterleben nach dem Tod.
Lieben Dank für diesen tollen Beitrag, der mir wieder einmal einen nachdenklichen Abend beschert.
Herzliche Grüße
Karin
Sonja Schiff meint
Herzlichen Dank Karin für Deinen Kommentar. Ja das stimmt, wir sollten uns nicht zu sehr in Gedanken verstricken, sondern einfach leben, im Hier und Jetzt. Aber manchmal überkommt es mich. Das Tolle am Bloggen: Ich kann meine Gedanken teilen! Und ich bekomme Resonanz! Danke dafür!
Dr. Frankenstein meint
Klar kann ein Mensch allein überleben. Wir können es nur dank des Luxus den selbst die Harz 4rer haben nicht mehr. Ansonsten guter Text.