„Ein Jugendbuch also “ ging mir in der Buchhandlung durch den Kopf als ich Julya Rabinowichs neues Buch in der Hand hielt. Die Kategorie Jugendbuch ließ mich zögern. Immerhin bin ich bereits vor zwei Jahren in meinen Fünfzigern angekommen. Jugendbücher sind nicht mehr ganz meine Kragenweite. Doch dann habe ich es trotzdem gekauft, denn ihre beiden vorangegangenen Bücher „Erdfresserin“ (2012) und „Krötenliebe“ (2016) haben mich sehr bewegt. Na dann jetzt eben ein Jugendbuch.
Meine Leserinnen können sich vielleicht noch an das eine oder andere Jugendbuch des eigenen Lebens erinnern. Es gibt sie, jene Bücher, die ein Mädchen oder einen Jungen verändern, den Blick aufs Leben schärfen. Mich haben zwei Bücher als Kind besonders geprägt. Das eine war Anne Franks Tagebuch. Das andere war Karl Bruckners „Sadako will leben“, die Geschichte von dem Mädchen, welches die Atombombe auf Hiroshima überlebt und die, nachdem bei ihr die Strahlenkrankheit ausbricht, 1000 Kraniche aus Papier falten will, damit sie, wie eine alte Sage erzählt, wieder gesund wird. Dieses Buch hat mich zu Tränen gerührt und mir eine Kinderwelt verständlich gemacht, weit weg von meiner Welt. Mit Sadakos Hilfe habe ich in Ansätzen verstehen gelernt, was Krieg bedeutet.
Als ich jetzt Dazwischen: Ich von Julya Rabinowich las, erinnerte ich mich nach vielen Jahren wieder an Sadako. Warum ich das so hervorhebe? Weil ich sehr sicher bin, dass sich die jungen Leserinnen von heute in vielen Jahren ihrerseits an Madina erinnern werden, die Heldin von „Dazwischen: Ich“. Ich bin mir sicher, dieses wunderbare Buch wird prägend sein für viele junge Menschen und ich hoffe es liegt heuer unter vielen Christbäumen und hält auch Einzug in die Literaturlisten der Schulen.
Der erste Absatz des Buches lautet:
Wo ich herkomme? Das ist egal. Es könnte überall sein. Es gibt viele Menschen, die in vielen Ländern das erleben, was ich erlebt habe. Ich komme von Überall. Ich komme von Nirgendwo. Hinter den sieben Bergen. Und noch viel weiter. Dort, wo Ali Babas Räuber nicht hätten leben wollen. Jetzt nicht mehr. Zu gefährlich.
Zum Inhalt:
Madina lebt mit ihren Eltern, dem kleineren Bruder Rami und der schweigenden Tante Amina in einer größeren Flüchtlingspension. Von der Mutter ihrer Freundin Laura hat Madina ein Tagebuch erhalten. Dem vertraut sie nun ihre Gedanken an. Die Beobachtungen in der Flüchtlingsunterkunft, ihre Erlebnisse mit Freundin Laura, die sich wiederholenden Besuche bei der Asylbehörde, wo sie für den Vater übersetzen muss, weil der noch kein Deutsch kann. Ihre Hoffnungen auf ein normales Leben im neuen Land und wie diese Hoffnungen auf die Normen und Werte des Vaters prallen, der hier in diesem neuen Land noch nicht angekommen ist.
Wir erleben wie ein Mädchen zwischen zwei Welten hin und her pendelt.
Hier Laura, die Freundin und Schulkollegin, deren Welt auch nur nach außen heil ist, die aber alles hat, was sich Madina wünscht. Ein Haus, einen Garten, ein eigenes Zimmer, eine lebensfrohe Mutter und vor allem Freiheit. Mit Laura fühlt sich Madina stark und sicher, lebt die Träume eines pubertierenden Mädchens, will auf eine Party und spürt erstes Herzflattern.
Dort aber das Leben in der Flüchtlingspension mit Armut, bizarren Regeln, mit dunklen Gestalten und mangelnder Privatsphäre, mit dem ewigen Warten auf den Asylbescheid und einem Vater, der die Moralvorstellungen der Heimat hochhält als Schutzschild gegen die Fremde.
Madina erfährt viel Unterstützung. Laura teilt mit ihr alle Geheimnisse und steht ihr bei, wenn sie aufgrund ihrer Herkunft Ablehnung erfährt. Lauras Mutter lässt sie wie selbstverständlich am Familienleben teilhaben, fährt sie am Abend nach Hause und gibt sogar Madinas Vater Arbeit. Frau King, eine verschrobene Deutschlehrerin, gibt Nachhilfe und so schafft Medina den Sprung in die nächste Klasse. Frau Wischmann, die Schulpsychologin, steht ihr mit Gesprächen bei und tritt auch Madinas Vater einmal entgegen.
Als der positive Asylbescheid und damit ein Leben mit Zukunft endlich absehbar wird, will Medinas Vater plötzlich zurück in die Heimat, weil die Ehre es von ihm fordert und stellt damit Medinas Zukunftspläne auf den Kopf. Medina trifft eine schwerwiegende Entscheidung.
Zur Autorin:
Julya Rabinowich ist geborene Russin und wurde selbst 1977, wie sie es selbst benennt, entwurzelt und umgetopft nach Wien. Sie hat viele Jahre als Simultandolmetscherin im Rahmen von Psychotherapie- und Psychiatriesitzungen mit Flüchtlingen gearbeitet. Mehr zur Autorin und ihrem künstlerischen Werk findet man HIER.
Meine Gedanken zum Buch:
Die Autorin lässt ihre kleine Heldin mit kraftvoller Sprache aus ihrem Leben erzählen und gibt damit einen sensiblen Einblick in die Zerrissenheit eines Flüchtlingskindes zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen alter Heimat und neuer Welt, aber auch in die Gefühlswelt eines Mädchens zwischen Kindheit und Erwachsenwerden. Das Buch zeigt, wie intensiv und positiv Kinder nach vorne in die Zukunft gehen, aber auch wie sie in Traumwelten flüchten, um die Seele zu retten und wohl genau dadurch die Kraft aufbringen, Vergangenheit zu bewältigen.
Trotz des topaktuellen Themas findet sich in „Dazwischen: Ich“ kein Pathos, keine Klischees und auch kein erhobener Zeigefinger. Gerade deshalb ermöglicht das Buch Identifikation mit einem Mädchen, wie es in jeder Schulklasse Europas sitzen kann. Das Buch macht Mut in einer Zeit, wo so viel von Angst geredet wird. „Solche wie dich können wir hier gut gebrauchen“ sagt denn auch am Ende des Romans die Sachbearbeiterin zu Madina und als Lesende stimmt man dem von Herzen zu.
Prädikat: Sehr empfehlenswert, nicht nur für Jugendliche.
Dazwischen: Ich
Julya Rabinowich, 2016. 255 Seiten.
Steffi meint
Liebe Sonja,
hier nchmals mein Kommentar, so wie ich ihn in Erinnerung habe:
Noch bevor ich den Satz von den veränderndene Büchern zu ende gelesen hatte, dachte ich an „Sadako will leben“. Ich bin also nicht die einzige, die von dem Schicksal Sadakos geprägt wurde! So werde ich also jetzt „Dazwischen Ich“ lesen, danke für den Tipp!
Liebe Grüße
Steffi
PS: Für ein gutes Jugendbuch ist frau nie zu alt!