Manchmal begegnet man Büchern, die erscheinen einem zuerst banal. Zu banal. Man liest einige Seiten. Legt sie weg. Vergisst sie. Irgendwann greift man wieder nach ihnen. Zufällig. Und plötzlich ist man bereit dafür.
So ging es mir mit Ein Baum wächst in Brooklyn. Eine Grätzel-Buchhändlerin in Wien hatte es mir wärmstens empfohlen. Also nahm ich es auf gut Glück mit. Zwei Leseversuche scheiterten. Was interessierte mich die kindliche Träumerei eines 11 jährigen Mädchens…….
5 Jahre später begann ich erneut. Alle guten Dinge sind drei, oder? Und siehe da, kaum hatte ich die bereits gelesenen Seiten überwunden, packte mich das Buch, landete ich mitten im Jahr 1912, in Brooklyn, in der Welt von Francie Nolan.
Der erste Satz
„Heiter“ war ein Wort. das auf Brooklyn, New York, passte.
Der Inhalt
Brooklyn Williamsburg 1912. Francie lebt mit ihrem Bruder Neely und ihren Eltern Katie und Johnny, beide Analphabeten und Kinder irischer und österreichischer Einwanderer, unter ärmlichen Verhältnissen. Ihr Vater, singender Kellner und dem Alkohol zugetan, träumt vom Durchbruch als Sänger, aber er kann mit seinen Gelegenheitsjobs seine Familie finanziell kaum durchbringen und ist mit seiner Unzuverlässlichkeit keine große Stütze. Also ist es Mutter Katie, die die Existenz der Familie sichern muss, sie arbeitet als Putzfrau und Hausmeisterin. Obwohl Katie schwer arbeitet, kommen die Nolans nur knapp über die Runden und immer wieder begleitet die kleine Familie Hunger und die Frage, wie es weitergeht. Was Katie Nolan hasst: Abhängigkeit von Wohlfahrtorganisationen. Wovon sie träumt: Dass ihre Kinder die Armut hinter sich lassen. Sie weiß auch, wie das zu erreichen ist. Mit Bildung. Auf Anraten ihrer Mutter liest sie ihren Kindern täglich vor, eine Seite aus der Bibel, eine andere Seite aus den gesammelten Werken Shakespeares.
Die 11 jährige Francie, ein stets an Einsamkeit leidendes Mädchen, ist eine genaue Beobachterin ihrer Familie, ihrer Zeit und ihres gesellschaftlichen Umfeldes. Sie liebt das Lesen, das Klavier spielen, das Schreiben und will Schriftstellerin werden.
Doch dann, Mutter Katie ist gerade wieder schwanger, stirbt Vater Johnny überraschend an einer Lungenentzündung. Die Familie kämpft ums Überleben. Nach dem Abschluss der Grundschule muss Francie, statt wie erträumt die Highschool zu besuchen, arbeiten gehen, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen und um den Highschool-Besuch des Bruders zu finanzieren. Der soll, auf Wunsch von Mutter Katie, Arzt werden.
Die Autorin
Betty Smith wurde 1896, als Tochter deutscher Einwanderer, in Brooklyn geboren und ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Mit ihrem ersten Ehemann zog sie nach Michigan. Dort durfte sie an der Universität zwar nicht immatrikulieren, aber sie erhielt die Erlaubnis, Kurse zu besuchen. Ein Baum wächst in Brooklyn – erschienen 1043 – war ihr erster Roman. Er wurde 1944 für den Pulitzer-Preis nominiert, war in den USA hochprämiert und Bestseller. Das Buch wurde 1945 von Elia Kazan verfilmt, der Film wurde mit einem Oskar ausgezeichnet. Betty Smith starb 1972.
Persönliches Fazit
Ein Baum wächst in Brooklyn hat mich tief berührt und sehr nachdenklich gemacht. Berührt haben mich die großartigen Frauenfiguren im Buch, ein Potpouirri an spannenden und außergewöhnlichen Charakteren. Bei vielen ging mir durch den Kopf: „Wie kann ein Mensch nur so viel Schmerz/ so viele Sorgen aushalten“, aber ich hab mich auch dabei erinnert an die vielen Frauen, denen ich schon begegnet bin und in Anbetracht deren Schicksalsschlägen mir diese Frage, wie viel kann man aushalten als Mensch, auch schon durch den Kopf ging. Ja, Frauen halten tatsächlich, nicht nur in Romanen, sehr viel aus.
Nachdenklich gemacht hat mich das Kernthema des Buches- die Armut. Im heutigen Wohlstand kann man sich so viel Armut ja gar nicht mehr vorstellen. Dass eine Mutter sich etwa für ihre Kinder ein Spiel ausdenkt mit Namen „Nordpolexpedition“, mit dem sie die notwendige Essenrationierung zum Abenteuer erklärt, damit die Kinder nicht erfahren, dass kein Geld mehr da ist, um Essen zu kaufen – das macht betroffen. So weit weg von unserer Wohlstandsgesellschaft. Dabei ist diese Armut und auch die damit verbundene Ausbeutung nur scheinbar nicht mehr unter uns, denn in Wahrheit findet sie immer noch statt – in Bangladesh, im Jemen, in den Flüchtlingslagern dieser Welt.
Betty Smith hat mit diesem Buch über die zweite und dritte Generation USA-Einwanderer ein eindrucksvolles historisches Zeitbild von den Menschen im Brooklyn zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschaffen. Doch wer glaubt, in diesem Buch nur Tristesse zu begegnen, der irrt. Denn trotz der großen Armut findet man im Leben von Francie und ihrer Familie auch Hoffnungen, Freude, Glück und und sprühendes Leben.
Ein Baum wächst in Brooklyn
Betty Smith
Insel Verlag, 622 Seiten
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