Vor einiger Zeit bin ich über ein Video gestolpert, eine Art Trailer für ein Buch, und war erbost. Danach habe ich mir trotzdem das Buch gekauft, zugegeben mit großem inneren Widerstand. Warum? Ich wollte mir als Alternswissenschaftlerin einfach mein eigenes Bild von dem Bestseller des Jahres 2018 machen. Und siehe da, ich wurde überrascht.
Aber der Reihe nach….
Hilde & Gretl – worum es geht
Es geht um das Buch Hilde & Gretl – Über den Wert der Dinge, geschrieben von Tarek Leitner und Peter Coeln. Im Mittelpunkt des Buches steht das alte Haus zweier Cousinen in Gars am Kamp/ Waldviertel. Die Cousinen waren verstorben. Danach stand das Haus viele Jahre unberührt, versank in eine Art Dornröschenschlaf, bis es von Peter Coeln entdeckt, gekauft und saniert wurde. Das Buch dokumentiert das Räumen des Hauses durch die beiden Autoren, deren Umgang und Gedanken beim Sortieren der persönlichen Gegenstände und Dinge des täglichen Gebrauchs der verstorbenen Frauen.
Erster Eindruck: Ein unsensibler Buch-Trailer
Über das Buch gestolpert bin ich über eine Berufskollegin. Sie befragte die Menschen ihrer Facebook – Community, was sie vom Trailer zum Buch Hilde & Gretl halten würden. Die Community war erbost. Begriffe wie Würdelosigkeit oder Leichenfledderei fielen. Ich selbst dachte mir beim Betrachten des Films „Ja, spinnen die denn total?“ Besonders enttäuscht war ich über die mangelhafte Sensibilität von Tarek Leitner, den ich für einen eigentlich wahrnehmenden Journalisten hielt. „Wie konnte er nur? Was dachte sich der dabei?“, fragte ich mich.
Hier das Video. Bitte ansehen, hineinspüren und auf die inneren Stimmen hören. Wie seht Ihr diesen Beitrag?
Das Video (und die weiteren, es gibt eine ganze Reihe davon) hat mich echt fassungslos zurückgelassen. Tarek Leitner zieht sich den Schlafrock der einen verstorbenen Frau an, setzt sich den Strohhut der anderen verstorbenen Dame auf und redet davon, persönliche Gegenstände der Frauen in „Engerkisterl“ und „Deckerlkisterl“ zu trennen und „im Klumpert zu stiadln“.
Es folgen Detailaufnahmen aus dem Haus der Cousinen, Assoziationen und erfundene Geschichten zu den Dingen, Bewertungen der Gegenstände und äußerst intime Einblicke, wie etwa auf das Bett der beiden Frauen. So zeigt Tarek Leitner im Video, dass zwischen den einzelnen dünnen Matratzen Karton gelegt wurde und meint dazu, das wäre notwendig für den „Himmelsschlaf“. Überhaupt, durch alle Videos hindurch zieht sich ein zynischer Ton, ein sich lustig machen über vergangenes Leben. Das passiert nie direkt, eher zwischen den gesprochenen Worten. Eine vermeintlich skurrile Welt wird dem Publikum vorgeführt. Ja genau, das ist es. Eine Vorführung zweier Menschen und deren Lebensstil. Und die beiden Frauen können sich nicht mehr dagegen wehren. Besonders der religiösen Sammeltick der alten Damen wird auf die Schaufel genommen. So meint Leitner etwa zum Strohhut auf seinem Kopf: „Das ist der Engerkisterlhut und das Gute bei dem ist, dass man immer das himmlische Licht im Gesicht hat. Weil er ist auch Engelszwirn gemacht.“ Sagts und grinst.
Beim Betrachten der Videos ging mir durch den Kopf, dass es wirklich wichtig ist vor dem Tod die persönlichen Dinge zu regeln, möchte man sichergehen, dass da nicht irgendwann jemand respektlos und abwertend in den persönlichen Sachen herumräumt, oder wie im Video und im Buch genannt „im Klumpert stiadlt“.
Außerdem dachte ich mir: Hey, das könnte sogar ein interessantes Geschäftsfeld sein, so nach dem Motto: „Biete respektvolle Wohnungsräumung. Gebucht und bezahlt vor Ihrem Tod. Damit Ihr gelebtes Leben nicht nachträglich abgewertet wird.“
Zweiter Eindruck: Ein überaus respektvolles Buch
Also habe ich mir das Buch gekauft, um nachzusehen, wie diese Respektlosigkeit weitergeführt wird. Ob auch im Buch der Lebensstil der alten Frauen bewertet, abgewertet und vorgeführt wird. Inzwischen hatte ich auch erfahren, dass das Buch ein Bestseller ist. Umso neugieriger war ich.
Ich gebe zu, ich war überrascht. Buch und Video stehen sich nämlich diametral gegenüber, denn das Buch legt einen überaus wertschätzenden Umgang mit dem Nachlass der beiden Cousinen offen. In fünf Kapiteln wird davon erzählt, wie Tarek Leitner und Peter Coeln Gegenstand für Gegenstand sichten, auf ihren Wert hin überprüfen, staunen, Zusammenhänge erkennen, Eigenheiten der Frauen entdecken, Lebensgeschichten finden, in den Alltag des 20. Jahrhunderts eintauchen und überlegen, was sie wie weitertragen wollen.
Keine Spur von Zynismus. Keine Anzeichen für ein sich lustig machen. Stattdessen großer Respekt vor dem Einblick in die, wie in einer Zeitkapsel konservierten, Welt der verstorbenen Cousinen.
Eine Kostprobe:
„Man konnte beim Betreten des Zimmers den Eindruck gewinnen zu stören, einzudringen in die Privatheit fremder Menschen, und das auch noch zu einem besonders intimen Moment. Es schien alles von einer Minute auf die andere verlassen worden zu sein: mehr Flucht als Ausziehen.“ (Seite 36/ 37)
Die beiden, von mir im Video so negativ erlebten Worte „Klumpert“ und „stiadln“ werden ebenfalls erläutert. Die Definitionen dieser Worte zeigen ebenfalls ein anderes Bild als die Videos vermuten ließen (beide Seite 45).
„Stiadln ist ein Schweben durch die eigenen Absichten, wie man mit den Dingen verfahren will. Es ist ein Vielleicht. Wir greifen etwas an, blasen den Staub herunter, legen es wieder hin – oder stellen es zu einer ähnlichen Sache. Etwa Gipshäschen zu Porzellanhäschen, Häkeldeckerl zu Samtdeckerl und geschnitzte Holzmadonnen zu weihwassergefüllten transparenten Madonnenplastikflaschen.“
„Klumpert. Es können Sachen sein, deren Funktion und Herkunft sich überhaupt nicht erschließen. Solche Sachen wandern schnell in den Müllsack. Und dann entdeckt man viel später und meist zu spät, dass es die Handkurbel des gusseiserenen Fleischwolfs gewesen sein muss, der nun erst recht zum Klumpert wird.“
Besonders gerührt hat mich der Umgang der Autoren mit Eigenheiten der beiden Cousinen. So schildern sie etwa ausführlich und beinah liebevoll das ausgeklügelte Ordnungssystem der Frauen, dessen wichtigstes Werkzeug fleischfarbene Nylonstrümpfe waren.
Auch den gefundenen Briefen wird Zeit und Aufmerksamkeit gegeben. So wird ein Brief gefunden aus dem Jahr 1943 mit der Aufschrift „letzter Brief“, der sich als Feldpost des Bruders aus Russland entpuppt. Die weitere Durchforstung der Briefe soll zeigen, dass der Bruder nie zurückkehrte. Im Jahr 1958 heißt es in einem Schreiben des Bundesministerium „…dass sich die Wahrscheinlichkeit ableiten lässt, dass der Vermisste nicht mehr am Leben ist.“ (Seite 95-97)
Beim Durchforsten des Hauses und der liebevollem fotografischen Dokumentation des Hauses und der Gegenstände, kommen die Autoren auch im Buch zur Erkenntnis, dass die Cousinen schrullige Persönlichkeiten gewesen sein müssen. Aber auch bei diesen Interpretationen schwingt immer Wertschätzung mit, ein Stück Staunen und viel Respekt.
„Verrückt waren aber nicht nur die beiden. Auch die Alltagsdinge, die sich uns darboten, waren ab dem Moment verrückt, als wir mit ihrer Aneignung begannen. Denn wir haben die Dinge sofort wie die in einem Museum gesehen und behandelt. Wir haben sie zu Reliquien gemacht, mit Wert und Bedeutung aufgeladen, die ihnen zuvor möglicherweise niemals zugedacht waren.“ (Seite 40).
Mein Fazit
Ein einfach wunderbares Buch! Aber saudumme Vermarktungsvideos.
Das Buch Hilde & Gretl – Über den Wert der Dinge ist eine Hommage an die beiden Cousinen, an ihren Lebensstil wie an Ihr einzigartiges, gelebtes Leben.
Als Leserin bin ich eingetaucht in die Welt der Frauen – in ihr Haus voll Gegenständen und Alltagsgeschichte, in ihre Lebensgeschichten, ihre Reisefreudigkeit, ihre Verschrobenheit und ihre skurrile religiöse Sammelwut. Zu erfahren, dass die beiden Cousinen ihr Haus abrupt, aufgrund eines wahrscheinlich dramatischen Ereignissen während des gemeinsamen Weihnachtsfestes, verlassen mussten, erzeugte bei mir großes Mitgefühl für diese beiden, vor langer Zeit bereits verstorbenen Frauen. Großartig aber zu wissen, dass viel vom Geist der zwei Cousinen im sanft renovierten Haus spürbar bleiben wird.
Im Buch erklären die Autoren übrigens auch, warum sich Tarek Leitner, wie im Video zu sehen war, den Schlafmantel und den Strohhut der Frauen zu eigen machten und überstreifte. Auch hier war nie Respektlosigkeit im Spiel. Im Gegenteil! Aus Sicht der Autoren kaschierte das Tragen der Morgenmäntel ihr Eindringen in das Lebensumfeld der zwei Cousinen, weil „…nichts Fremdes, nichts Aktuelles, gar Modisches war an uns zu sehen“ (Seite 48) und erleichterte ihnen, sich in die Welt und Lebensgeschichten der Frauen einzufühlen.
Absolute Kaufempfehlung. Prädikat: Wunderbar.
Hilde & Gretl – Über den Wert der Dinge
Tarek Leitner, Peter Coeln
140 Seiten. Brandstätter Verlag
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