Es gibt Themen, die beschäftigen einen ein Leben lang. Man arbeitet hart dran, man entwickelt Strategien damit umzugehen, verarbeitet. Aber immer wenn man denkt, man ist endlich drüber weg, man hat das Thema hinter sich gelassen, man hat es positiv bewältigt, BUMM!- kommt die nächste Welle und schwappt über einen hinweg.
Mein Lebensthema: Ich bin kinderlos!
Hinter mir liegen viele Jahre unermessliche Trauer, mit der ich immer alleine war, weil Kinderlosigkeit ein gesellschaftlich tabuisiertes Thema ist und weil die Sprüche meines weiblichen Umfeldes (Beispiel: Sei froh, Du hast ja keine Ahnung was Dir erspart bleibt!“) so hilfreich waren wie ein Kropf. Lange Zeit habe ich wochentags nur funktioniert, vor allem in meiner Arbeit damals als Sozialmanagerin, während ich abends, nachts und am Wochenende versunken bin in Schmerz, Tränen und Verzweiflung, immer knapp an Depressionen entlang schrammend.
Irgendwann – nach vielen Stunden Arbeit an mir selbst, mit und ohne Hilfe – habe ich all den Schmerz überwunden, habe das Gefühl des Mangels hinter mir gelassen, meine Chancen als kinderlose Frau erkannt, mich ins Leben gestürzt, in die Arbeit, in meine Kreativität. Alles war gut. Dachte ich.
Ein Tumor bringt überraschende Einblicke
Eines Besseren belehrt hat mich dann 2017 ein Ovarialtumor, der einen Tag vor Weihnachten diagnostiziert wurde. In meiner Auseinandersetzung mit ihm habe ich damals eine Art Organaufstellung gemacht. Dabei erzählten mir meine Organe, zu meiner völligen Überraschung, dass sie sich sehr viel Mühe gemacht hätten, mir meinen Kinderwunsch zu erfüllen und jetzt ausgelaugt wären, mein erkrankter Eierstock entschuldigte sich dafür, dass er keine Kraft mehr gehabt hatte, sich gegen den Tumor zu wehren. Absurd? Nein, nicht für mich. Das Gespräch mit meinen Organen war berührend und stimmig. Ich habe mich daher auch für ihre Arbeit und Mühe bedankt und mir dann sogar von ihnen die Erlaubnis eingeholt, sie entfernen zu lassen, sollte man Krebszellen finden bei der Operation. Was dann auch geschah.
Danach schien mein Lebensthema erneut positiv bewältigt.
Aber ein Lebensthema wäre kein Lebensthema, wäre es tatsächlich irgendwann „fertig“. Das weiß ich heute. Lebensthemen sind niemals „fertig“, sie sind immer anwesend, schwelen in dir weiter und poppen erneut hoch, wenn man sie am wenigsten erwartet. Man bleibt mit diesen Themen ein Leben lang im Prozess.
Mama Sonja für 5 Jahre
Für einige Jahre dachte ich, mein Schicksal hätte es gut gemeint mit mir und mich auf anderem Weg zur Mutter gemacht. Langjährige LeserInnen können sich vielleicht erinnern an meine Geschichte Mama Sonja. Ein junger Asylwerber machte mich quasi zu seinem „Mutterersatz“. Das kurze Glücksgefühl damals, gepaart mit Scham über meine eigenen Gefühle (siehe mein Blogbeitrag), werde ich wohl nie vergessen. Ich ging voll auf in meiner neuen Rolle, ließ mich ein, begleitete, hörte zu, litt mit, nahm Lebensgeschichte und Ängste entgegen, half, unterstützte, feuerte an……
Ich war nicht fehlerfrei, aber ich gab 5 Jahre alles, was ich geben konnte. Doch es war nie genug. Emotional nie genug. Der junge Mann zweifelte immer wieder an meiner Liebe, sie schien immer zu wenig. Ich war aus seiner Sicht zu unaufmerksam, zu wenig liebevoll, hatte zu wenig Verständnis für ihn, war zu wenig präsent und all das gipfelte in einem Ereignis, das mir für einen Moment den Boden unter den Füßen wegzog: Es war während des dritten Corona-Lockdowns, ich war längere Zeit in meiner zweiten Heimat Ungarn und bat meinen „Sohn“, ein wenig auf meine Wohnung zu schauen. Einmal pro Woche Blumen gießen und Post reinholen. Als ich ihn vor meiner Heimreise ersuchte, er möge bitte in meiner Wohnung die Heizung anstellen, meinte er in wütendem Ton: „Langsam fühle ich mich mehr als dein Hausmeister, statt als Sohn.“
Mir blieb die Luft weg! Was für ein Schmerz! Da war es wieder, mein Lebensthema. Mein alter, längst überwunden geglaubter Glaubenssatz: „Vielleicht hast du ja auch keine Kinder bekommen, weil du eine grottenschlechte Mutter gewesen wärst.“ poppte hoch und traf mich mit voller Wucht. Mein Innerstes zerschellte.
Am nächsten Tag kappte ich diese Mutter-Sohn-Beziehung.
Einige Monate versuchte ich noch stattdessen Freundin zu sein. Ich wollte den jungen Mann doch nicht fallen lassen, fühlte mich ja immer noch mit ihm verbunden. Mitte des Jahres bekam er endlich den positiven Bescheid. Auch zu diesem Verfahren habe ich noch meinen Beitrag geleistet. Doch seit kurzem ist klar, auch in der Freundschaft geht dieses emotionalen Hin und Her und die daraus resultierenden Verletzungen weiter. Und so habe ich gestern den Kontakt beendet. Ganz und gar. Endgültig. In dem Wissen, dass ich aus Sicht des jungen Mannes eine große Enttäuschung bin. Eine schlechte Mama eben.
Lebensthemen bleiben immer präsent. Fertig sind sie wohl erst, wenn man gestorben ist.
Defizit traf auf Defizit.
Rückblickend denke ich, dass wir beide – der junge Mann genauso wie ich – uns all die Jahre etwas vorgemacht haben und unbewusst hofften, der andere könnte die eigenen Wunden heilen. Doch die eigenen Wunden kann man in Wahrheit nur selbst heilen.
Er, in einem Land des Krieges aufgewachsen, hat als Kind, so meine Vermutung, wohl alles andere als viel Liebe erhalten. Die Schlepper hatten ihm geraten, sich in Europa eine „Mama“ mittleren Alters zu suchen (so vermute ich jedenfalls, weil er in einer Situation in Verbindung mit einem minderjährigen Asylsuchenden mal meinte „Der soll sich eine eigene Mama suchen, wir suchen uns alle eine eigene Mama“), die ihm hilft in Europa anzukommen. Nichts davon ist schlecht, nur dass das niemand falsch versteht. Es ist klar, dass jemand, der auf der Flucht ist und alles verloren hat, versucht irgendwo bei einem Menschen zu ankern.
Was aber weder er, noch ich sahen, war, dass er in diese „Mama“ all seine emotionalen Defizite und Hoffnungen hineinprojizieren würde, sich erwarten würde, diese Mama müsste absolut bedingungslos für ihn da sein und er konnte auch nicht wissen, dass er trotzdem nie das Gefühl bekommen würde, da wäre genug Liebe vorhanden.
Und auch ich habe nicht geahnt, dass ich mit meinem emotionalen Hintergrund in der Rolle als „Mama“ extrem verletzlich sein würde. Mir war damals nicht klar, dass seine Unzufriedenheit bei mir ständig meinen alten Glaubenssatz „Du bist kinderlos, weil du keine gute Mutter geworden wärst“ aufpoppen lassen würde und dieser sich immer wieder und wieder bestätigen und mich auf eine emotionale Achterbahn führen würden. Ich war aufgrund der emotionalen Verstrickung extrem empfindlich und habe sicher auch so manche berechtigte Kritik nicht gehört, beziehungsweise seine Bedürfnisse hinter den Vorwürfen nicht wahrnehmen können. Was normalerweise eine Stärke von mir ist.
Emotionales Defizit traf auf emotionales Defizit. Schmerz auf Schmerz. Das konnte unmöglich gut gehen. Viel zu komplex die Voraussetzungen, so meine Erkenntnis heute.
Am Weg zurück in ein glückliches kinderloses Leben
Für einige Jahre schienen sich all meine irrationalen Ängste – wie etwa, ich würde im Alter allein sein und niemand würde am Ende meines Lebens um mich trauern – aufzulösen. Aber es war eine Illusion. Lebensthemen lösen sich nicht einfach auf. Sie kommen in so vielen Facetten daher und fordern Dich immer und immer wieder heraus, sie zu bearbeiten.
Also arbeite ich erneut an mir. Ich trauere wieder heftig, ich arbeite dran das Gefühl des Mangels zu überwinden und diesen schmerzhaften Glaubenssatz ad acta zu legen. Ich versuche Frieden mit mir zu schließen, meine irrationalen Ängste zu entlarven und ihnen positive Bilder von meinem hohen Alter gegenüber zu stellen.
Ich bin wieder am Weg zurück in ein kinderloses und trotzdem glückliches Leben. Bald ist es erneut geschafft.
Und zum Schluss:
Es gibt hier keine(n) Schuldigen. Darum geht es hier nicht. Es hat niemand etwas falsch gemacht und gleichzeitig haben alle etwas zu gleichen Teilen falsch gemacht. Hier haben zwei erwachsene Menschen agiert, die verstrickt sind in emotionalen Verletzungen und Prägungen. Beziehungen sind kompliziert. Jeder/ jede bringt in eine Beziehung immer sich mit allen Prägungen und Verletzungen ein. Dafür kann niemand etwas. Weder bin ich die Heldin, noch bin ich die Böse. Und auch für den jungen Mann gilt das Gleiche. Ich gehe immer davon aus, dass alle das Beste gegeben haben. Und ich sag nicht, dass ich keine Fehler gemacht habe. Es waren viele!!!!!!
Ich bin und bleibe stolz auf den jungen Mann. Ich bin zuversichtlich, dass er seinen Weg gehen wird und wünsche ihm von Herzen, dass sich all seine Träume erfüllen. Und, auch wenn er es nie verstehen wird, ich schaue mit Liebe auf ihn und die gemeinsame Zeit. Ich bin dankbar dafür, einen kleinen Moment „Mama“ gewesen zu sein.
Der Text hat, wie zu erwarten, viele Emotionen und eine breite Diskussion, vor allem auf Facebook in meinem Profil, ausgelöst. Hier kann man eine Zusammenfassung und mein abschließendes Resümee nachlesen: http://vielfalten.sonjaschiff.com/mama-sonja-abschlussreflexion/
Fotocredits Tiermütter und Kaktus: Pixabay
Foto Wolkenformation: Sonja Schiff
Ck meint
Sehr berührend, liebe Sonja. Ich versehe ein wenig, was du fühlen musst. Und du siehst sehr klar, was da zwischen euch emotional aufgelaufen ist. ,Defizit trifft Defizit‘ finde ich eine sehr gute, therapeutische Analyse. Aber manchmal ist das in Worte fassen im Herzen noch nicht angekommen, wenn das Hirn auch klar sehen kann.
Ich denke, das Schreiben ist dein gesunder Weg und gibt die nötige Distanz, um sich dem Kern behutsam zu nähern. Und es ist normal und in Ordnung, dass die alten Wunden immer wieder auftauchen und vielleicht begleiten einen manche ein Leben lang, weil alles was du bist auch in deinen Schmerzen begründet ist.
Du bist eine tolle Frau und du wärst eine tolle Mutter gewesen, weil du wie wir anderen, immer dein Bestes gegeben hättest. Mehr kann man nicht tun. Zu uns Mütter sagt man ja auch, dass wenn man mehr als die Hälfte richtig gemacht hat, ist man schon verdammt gut. Wir sind alle nicht perfekt und perfekte Mütter gibt es auch nicht. Bei manchen sieht es so aus, aber dann erkennt man, dass Perfektion nichts Lebendiges ist und immer etwas anderes, oder wer anderer, für vermeintliche Perfektion geopfert wird.
Du hast die Entscheidung getroffen, euch beide aus eurer Bedürftigen Beziehung rauszulassen, damit sich wieder etwas bewegen kann. Du tust damit genau das, was Mütter tun, wenn die Kinder reif sind allein zu gehen. Das ist nicht leicht und man muss damit leben, dass man allein ist. Aber man tut es trotzdem, weil es richtig ist sich abzunabeln und abgenabelt zu werden. Ich würde die gemeinsame Zeit als Geschenk sehen und bitte nicht als Versagen. Ich finde das war ein guter Versuch zwei sehr komplexe archetypische Herzenswünsche unter einen Hut zu bringen.
Bitte erzägl uns immer von dir und deinen Struggles. Wir lernen mit dir, dass man für ganz schmerzhafte Momente trotzdem Worte finden kann. Dein Mut macht uns mutig. Und ich traue mich zu sagen, dass es Momente gibt, wo ich als Mutter wahrlich nicht der Lichtblick meines Kindes bin. Meistens nicht dramatisch für sie, aber für mich umso mehr. Der Anspruch an mich als Mutter ist zu hoch für den Menschen Claudia….
Danke dir für deine Ehrlichkeit und Authentizität.
Liebe Grüße
Claudia
Rosemarie Dorrer meint
Sonja, sehr berührend deine Erzählung. Als Mutter, die selbst sehr viel falsch gemacht hat, kann ich dir nur sagen, dass Frau auch mit Kind sehr allein sein kann. Ich bin jetzt schon 76, mein Sohn lernt in Miami und kommt manchmal nach Europa, Portugal und Wien, und dann sehe ich ihn. Unsere Beziehung reisst aber nicht ab, denn wir sind technisch oft zu Gesprächen verbunden. Aber bei einer biologischen Mutter/ Kind Beziehung ist das wohl leichter, weil es selbstverständlicher ist. Ich denke, dein Pflege-Sohn wird eines Tages zu einer erwachseneren Beziehung zu dir fähig sein. Es wäre dir und ihm zu wünschen. Liebe Grüße Rosemarie
claudia meint
vielen dank, liebe sonja, dass du deine gedanken, entwicklungen und erkenntnisse teilst. offenheit stellt stets verbundenheit her, egal ob innerhalb einer familie oder nach aussen. nur wenn wir uns verletzlich zeigen, koennen wir andere inspirieren. und das tust du!
Gabi Luksch meint
Liebe Sonja du hast nicht versagt,du hast alles gegeben was du geben könntest. Werte es nicht in gut oder schlecht. Mir ist etwas ähnliches passiert aber mit meiner leiblichen Tochter. Es ist egal ob blutverwandt oder nicht. Auch ich habe den Kontakt dann ganz und gar abgebrochen. Ist jetzt genau 10 Jahre her. Vielleicht erinnerst du dich noch an meine Leidensgeschichte während meiner Ausbildung bei dir. Bleib so wie du bist und kräme dich nicht. Man kann nicht immer alles richtig machen und es steht auch keinem zu darüber zu urteilen wenn man des Anderen Schuhe nicht an hat. Alles Liebe Gabi