Es ist schon mein halbes Leben her. Weihnachten 1990.
Ich war eine junge Hauskrankenschwester, besuchte also pflegebedürftige Menschen zu Hause. Dazu war ich frischer Single nach einer chaotischen-schwierigen Beziehung und auch das Verhältnis zu meiner Familie war schlecht. Weihnachten drohte also langweilig und vor allem einsam zu werden.
Als mir dann mein Patient Rudi, 52 Jahre alt, Alkoholiker im Endstadium, bettlägerig, abgemagert bis auf die Knochen, den ich seit ungefähr sechs Monaten täglich zwei Mal pflegte und den meine Kolleginnen hassten, weil er Kettenraucher war und man nach einer Stunde Pflege bei ihm stank wie ein alter Aschenbecher und er aus ihrer Sicht auch „asozial“ war, also als dieser Mann mir verriet, dass diese Weihnachten wohl seine letzten wären und flüsternd anfügte, mehr zu sich selbst als zu mir, dass er noch nie ein richtiges Weihnachtsfest erlebt hätte, traf ich meine Entscheidung.
Am Morgen des 24. Dezembers schleppte ich, neben meiner Einsatztasche mit Pflegeutensilien, einen kleinen Tannenbaum plus Ständer in den vierten Stock des Sozialbaus, zerrte ihn dort in der kleinen Wohnung ungesehen ins Bad und stellte ihn auf die Waschmaschine. Nach der täglichen Pflege, Inkontinenzhose wechseln, Körperwäsche im Bett, Frühstück richten und Medikamente geben, verabschiedete ich mich von Rudi und versprach abends noch einmal vorbeizuschauen. „Wo feiern Sie heute Weihnachten?“ fragte er mich, bevor ich, ohne Antwort mit einem Schulterzucken die Wohnung verließ.
Abends um Sieben stieg ich wieder die Stufen hoch zur kleinen Wohnung, öffnete die Türe, stellte meine Tasche im Flur ab und marschierte, nach einem kurzen Gruß in Richtung Rudi, in das Badezimmer. Ich behängte mit dem mitgebrachten Christbaumschmuck den kleinen Baum, gab ein wenig Lametta drauf und einige Kerzen. „Was tun Sie denn heute so lang im Bad“ rief Rudi etwas ungeduldig und genervt aus seinem Bett. „Den Christbaum schmücken!“ antwortete ich und war neugierig auf seine Antwort. Doch er schwieg.
Als ich den kleinen geschmückten Christbaum ins Zimmer trug, auf das am Vormittag abgeräumte Kasterl stellte und die Kerzen anzündete, hörte ich wie Rudi andächtig mit bebender und leiser Stimme anfing zu singen „Es wird schooooo glei duuuumper, es wird schoooooo gleich Noooocht“.
Es gab Nudelsuppe mit Würstel, die Rudi nach einer halben Stunde wieder auskotzen musste, weil sein Magen eigentlich keine Nahrung mehr vertrug. Es gab Rotwein und ein paar Vanillekipferl vom Supermarkt, dazu sangen wir Weihnachtslieder. Ich las eine mitgebrachte Weihnachtsgeschichte vor und Rudi erzählte mir aus seinem Leben. Davon, dass er im Alter von fünf Jahren von zu Hause weggeschickt wurde, zum Arbeiten bei einem hartherzigen Bauern und dass er sein Leben danach irgendwie nie auf die Reihe gekriegt hat. Als ich mich nach etwa drei Stunden, stinkend wie ein Aschenbecher, verabschiedete, flüsterte Rudi: „Danke. So etwas hat noch nie jemand für mich getan.“
Am nächsten Tag war Rudi tot. Ich fand ihn für immer schlafend in seinem Bett. So kam es, dass ich ihm nie sagen konnte, dass das Weihnachtsfest mit ihm zu den schönsten, weil intimsten, meines Lebens gehörte. Und auch nicht, dass er mich vor einem einsamen Weihnachtsabend gerettet hatte.
CLAUDIA meint
Liebe Sonja,
Herzlichen Dank für diese Geschichte. Ich hatte tatsächlich Tränen in den Augen und den Rauchgeruch in der Nase.
Ich denke, er hat gewusst…
Sonja Schiff meint
:-) i hope sooo
Maria meint
Ach Sonja…. Du bist die Königin meines (Internet-)Herzens! Ja, auch ich hab ein Tränchen im Augenwinkel hängen….
Hab ganz wunderbare Feiertage!
Lieben Gruß
Maria
Sonja Schiff meint
danke maria!! hoffe du hast schöne tage!
tonari meint
Sehr berührend. Eine wunderbare Geschichte zu Weihnacht.
Das nenne ich doch mal Nächstenliebe.
(Übrigens ist Dein Buch als Geschenk überall super gut angekommen. Das mit der Widmung noch einmal ganz besonders.)
Sonja Schiff meint
das freut mich sehr, frau tonari! danke für die rückmeldung!
Cecilia Stickler meint
..auch mich möchte mich bei den „Träne-in-den-Augen-haben“ einreihen.. Du hast es wunderbar gemacht und erzählt!
Patricia meint
Ich sitze hier und weine!
So schön und dennoch so traurig – schön das es so Menschen wie dich gibt!
Liebe Grüße Patricia