Ich kenne sie seit 20 Jahren. Sie ist die 85 Jahre alte Pförtnerin eines Frauenklosters. Einige Jahre habe ich in diesem Kloster als Hauskrankenschwester die Schwester Oberin gepflegt und dabei das Kloster und die Mitschwestern kennengelernt. Nachdem die Schwester Oberin gestorben war, blieb der Kontakt zur Pförtnerin des Klosters bestehen, denn ich spaziere seit Jahren schon mehrmals die Woche mit meinen Hunden am Kloster vorbei. Schwester Mathilde und ich winken uns dann immer zu und manchmal eilt sie herbei, um zu fragen, ob sie sich meinem Spaziergang anschließen darf. Dann reden wir über Gott und die Welt.
Heute aber ist ihr Winken irgendwie aufgeregt, sie ruft mir zu, läuft mir dann aber auf halbem Weg entgegen. „Ich wollte mich bei Ihnen verabschieden“, erklärt sie mir etwas außer Atem und fügt hinzu: „Man hat beschlossen mich in ein Kloster nach Bayern zu versetzen.“
Hab ich richtig gehört? Diese alte Nonne wird von irgend so einer Obernonne aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen? Sie wird in ihrem hohen Alter entwurzelt und irgendwohin gesteckt, wo sie niemanden kennt, wo sie nicht zu Hause ist? Ich bin wütend und entsetzt.
„Ja, freuen Sie sich denn nicht mit mir?“ fragt mich Schwester Mathilde als sie meinen zornigen Gesichtsausdruck sieht. Ich bin irritiert. Wieso mich mit ihr freuen?
Da nimmt sie mich an die Hand, schaut mir ins Gesicht und erklärt mir stolz: „Manche meinen ja, einen alten Baum soll man nicht versetzen. Aber ich finde es einfach wunderbar in meinem Alter noch einmal eine neue Aufgabe zu erhalten.“
Jahre später treffe ich Schwester Mathilde unvermutet wieder. Eine Pflegeakademie hatte mich eingeladen ein Seminar für Führungskräfte in der Altenpflege zu geben, der Seminarort ist ein klösterliches Seminarzentrum. Nach meinem Läuten an der Pforte, öffnet mir, zu meiner großen Überraschung, Schwester Mathilde, mittlerweile 92 Jahre alt und spirituelle Leiterin des Seminarzentrums.
Alte Menschen sind keine Bäume. Sie sind Individuen. Jeder für sich einzigartig.
Horst Konrad meint
Ja, da siehst du, wie das in einem christlichen Orden vor sich geht.
Gertrude Weingerl meint
Ja liebe Sonja. So ist das mit den alten Leuten. Genau gleich wie bei den jungen. Es gibt solche und andere. Die einen wollen nicht einmal vor die Haustür, die anderen suchen immer wieder neue Aufgaben. Wenn dazu ein Ortswechsel nötig ist, ist das o.k.