Ein neues Projekt im Blog VielFalten startet. Das Projekt VielLeben!
Ab nun werden hier in unregelmäßigen Abständen Männer und Frauen jenseits der 50 portraitiert, das immer auf die gleiche Art und Weise. Sie beantworten alle dieselben Fragen und jeder Mensch wir mit 3 Fotos portraitiert, eines aus der Kindheit, eines aus dem frühen Erwachsenenleben und eines von heute. Hier das erste Portrait.
Eva Maria Hofmann
Geboren am 04. Februar 1938, zur Zeit des nachfolgenden Portraits 77 Jahre alt. Sie lebt in einer Kleinstadt in Rheinland-Pfalz.
Eine Geschichte aus Ihrer Kindheit…..?
Da fällt mir spontan ein: Die Angst vor Gefahr in den Augen meiner Mutter. Sah ich immer. Der Krieg war ausgebrochen!
Als Kind Nummer 5, gewollt laut Aussage meiner Mutter, waren meine Geschwister für mich Vater- und Mutterersatz, weil Mutter hatte sehr viel Arbeit. Wir hatten so eine Kleinlandwirtschaft, heute würde man sagen, wir waren Selbstversorger. Allerdings ohne jede technischen Hilfsmittel. Es gab also viel Arbeit.
Anstelle von Unterricht in der Schule mussten wir öfters mit dem Lehrer Kräuter und Tee sammeln für die Soldaten. Mein Schulfreund hat einmal in meinem Beisein zwei Ohrfeigen bekommen, weil er nicht schnell genug den Deutschen Gruß (also Heil Hitler) wusste. Ich wurde verschont, weil mein Bruder bei der Hitlerjugend war. Ein Eiferer, immer die Nase vorne, wie viele damals, vor allem die Jungs, von Hitler begeistert waren.
Es gab damals viele Verbote, zum Beispiel durfte man im Radio nur bestimmte Sender hören. Meine Mutter und mein Bruder hatten beide dieses Tabu gebrochen. Sie schraubten am Radio und lauschten, wollten wissen, was an vorderster Front passierte. Ich selbst hörte damals am liebsten Erna Sack, eine berühmte Opernsängerin. Ihr schönstes Lied war für mich „Nachtigall“. Ich schwärmte von ihr und verstand mich gut im Nachsingen.
Zurück zu den Verboten. Etliche wurden mit der Todesstrafe belegt. Man nannte das „schwarz schlachten“. Also die Todesstrafe. Mein Bruder hatte unser blökendes Schaf, das wir heimlich hielten, geschlachtet. Man musste ja alles was man an Tieren und Land so besaß, beim Bürgermeister melden. Es gab damals Lebensmittelkarten, alles war rationiert. Mutter hatte das Hoftor abgeschlossen. Ich wollte zu meinem Bruder in die Scheune, war ahnungslos und sah dann wie mein Bruder dem Schafsbock das Fell abzog. Vor Schreck rannte ich weinend zu meiner Mutter. Die war gerade dabei einen Nachbarn abzuwimmeln, der zu Besuch kommen wollte. Er war hitlertreu, Aufseher in einem Gefängnis für politisch Verfolgte, und sich seiner Macht bewusst. Täglich wurden Todesurteile gefällt. Viele Menschen aus unserem Dorf hatten Angst vor diesem Mann. Aber das verstand ich natürlich erst später.
Wir Kinder waren mittendrin. Bomben, Luftschutzkeller, Sirenen, Angst. Es gab so einen Spruch damals: „Der größte Feind im ganzen Land, das ist der Denunziant“. Mutter wurde angezeigt. Na, von wem wohl?
Den Bürgermeister sah ich ein paar Mal zu uns kommen, danach hat meine Mutter immer geweint. Das machte mich und meine Geschwister sehr traurig. Besonders mein sonst so taffer Bruder schlich geknickt umher. Aber Mutter blieb am Leben. Solche Männer hatten damals große Macht. Heute weiß ich, was sie gerettet hat. Unser Nachbar wurde in einer Nacht- und Nebelaktion überwältigt und bestialisch ermordet, seine Frau grausam misshandelt.
Wir Kinder mussten am Nachmittag unser Kornfeld bestellen. Mein Bruder mähte mit der Sense und wir anderen Kinder mussten das Korn bündeln und aufstellen. Das war harte Arbeit. Ich wollte oft aufgeben, aber mein Bruder war zäh. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, war seine Rede. „Haltet durch, danach gehen wir im Bach baden!“, rief er uns zu. Dort hatten wir eine wunderbare Badestelle. Dort habe ich auch schwimmen gelernt. Wir hatten einen Hund. Mein Bruder meinte, ich sollte den Hund beobachten beim Schwimmen und es ihm dann nachmachen. Zur Mutter hab ich dann stolz gesagt: „Ich kann jetzt hundeln“
Zurück zum Kornfeld. Plötzlich sahen wir viele bewaffnete Soldaten, die gezielt die Felder durchstreiften. „Die suchen die zwei Männer, die den Herrn S. getötet haben“, flüsterte mein Bruder und fügte mit einem vielsagenden Blick hinzu: “Hoffentlich finden sie die nicht.“ Ich weiss noch, wie ich sagte, dass die nie gefunden werden sollen und mir mein Bruder den Zeigefinger auf den Mund legte. Das tat er öfters und das hieß für mich Mundhalten.
Die beiden Täter wurden dann doch gefunden. Es gab da ein Stück Wald vor dem Dorf, der war schon vorher gemeimnisumwoben, dort hatten sie sich versteckt gehalten. Sie wurden öffentlich hingerichtet.
Ich war irgendwie traurig. Aber mein Bruder hatte nicht vergessen, was der Nachbar unserer Mutter angetan hatte. Er hat dann noch Abenteuergeschichten erzählt, wie er den beiden Tätern zur Flucht verholfen hatte. Später wurde viel über den Nachbar erzählt. Wie grausam er zu den Häftlingen gewesen war. Ich hörte oft das Wort Denunziant und Verräter und dass er seine gerechte Strafe bekommen habe.
Sei vorsichtig was du sagst! Ich lernte vorsichtig zu sein. Wann schweigen? Wann reden? Manchmal umklammerte ich Mutters Rockzipfel, schaute fragend an ihr hoch und sagte: „Mutter?“ Ein kurzes Streicheln über den Kopf und schon ging es weiter. Mutter hatte viel zu tun.
Dann 1945 ein freudiger Aufschrei. „Der Krieg ist vorbei!“, hörte ich die Menschen rufen und sah die lachenden Gesichter. „Mutter, Mutter, rief ich, ist der krieg wirklich vorbei?“. Ja Kind, er ist vorbei. Da hatte ich ein richtig schönes Gefühl.
Wenn Sie an Ihre Jugendzeit denken, mit welchen 5 Begriffen würden Sie diese skizzieren?
Rebellion war angesagt! Ich habe etliche Lehrstellen geschmissen, ich habe die Schule geschwänzt, bin aus der Kirche ausgetreten und und und…..
Das Leben erleben war wichtig. Tanzen, feiern, Kino, schwimmen. Einfach neugierig sein auf das Leben.
Stellen Sie sich ihr Leben als Reise vor. Was waren die wichtigsten Stationen auf Ihrer bisherigen Reise?
Es gab viele wichtige Stationen in meinem Leben. Es gibt da so einen schönen Spruch: Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen.
Wenn Sie so Ihr Leben betrachten: Was trägt Sie im Leben? Was macht sie aus?
Ich bin Christin. Die Suche nach „Gott“ hat sich für mich gelohnt. Ich habe damit gelernt das Leben anzunehmen wie es ist.
Welche Erkenntnisse von heute hätten sie gerne schon früher gehabt. Was wäre dann vielleicht anders gewesen, anders gelaufen?
Früher zu meinem Glauben zu finden. So hätte ich einige Stationen vermeiden können.
Wenn Sie mit Ihrer Erfahrung heute Ihrem 20 jährigen ICH von damals, etwas vom Leben erzählen könnten, was würden Sie ihm mitteilen?
Was Du auch tust, tue es klug und bedenke das Ende. Im Rückblick können wir ja nur aus unseren Fehlern lernen.
Wo auf Ihrer Lebensreise befinden Sie sich gerade und wie geht die Reise weiter? Welche Pläne haben Sie? Was wollen Sie noch erleben/ tun/ erledigen?
Ich bin Witwe. Meinen lieben Mann gibt es nicht mehr. Ich muss mit dem alleine leben zurechtkommen. Reisen ist angesagt, Seelenfreunde finden und ich suche noch nach dem für mich passenden Ehrenamt. Das Ziel des Lebens ist das Leben selbst!
Sabine Kristmann-Gros meint
Eine tolle Frau, vor der Kamera wie auch im Leben!
rochus gratzfeld meint
Zeitgeschichte. Authentisch wiedergegeben von einer sehr sympathischen Frau. Auch Mahnung. Nie wieder das, was heute wieder aus den Höhlen kriecht. Bravo!
Brigitte van Hattem meint
Was für eine schöne Frau. Großes Kompliment!
Gertrude Weingerl meint
Eine interessante Geschichte von einer interessanten Frau. Ich bin etwas jünger, daher setzt meine Erinnerung später ein. Doch Erna Sack kannte ich auch noch. An sie gedacht habe ich schon lange nicht mehr.
Monika Krampl meint
Was für ein tolles Porträt! Am besten gefällt mir die 23-jährige mit der Schnute. Die Rebellion ins Gesicht geschrieben. Und welch wunderschöne 77-jährige! Chapeau, liebe Eva Maria Hofmann!
Roland Wiegold meint
Kenne Eva persönlich. Heute 10 Jahre älter noch immer eine humorvolle Frau, immer zu neuem aufgelegt. Ich hoffe, wie ihr Name Hoffmann, das sie uns noch lange lange so erhalten bleibt.
Sei gedrückt Eva
Yvonne meint
Eine ganz besondere Frau.
Wäre sie nicht meine Mutter, hätte ich sie mit Neugierde kennenlernen wollen.
Sie widerlegte mir Sprüche wie einen alten Baum kann man nicht verpflanzen oder was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr.
In anderen Worten ein Mensch kann sich komplett wandeln, denn wo ein Wille ist, ist auch ein Weg..
Du bist wunderbar.
Deine Tochter