September 1989. Ich bin 25 Jahre alt und fahre gerade zur Arbeit. Bei Mondsee muss ich auf die Autobahn Richtung Salzburg. Müde, aber routiniert nehme ich die Autobahnauffahrt, wie jeden Tag. Doch dann erfasst mich augenblicklich eine riesige Glückswelle. Hunderte, tausende Trabbis und Wartburgs tuckern die Autobahn entlang. Rosa, hellblau, gelb, rot, himmelblau fahren sie auf der Autobahn in Richtung Deutschland. Die Menschen in den kleinen Autos schwenken deutsche Flaggen, sie hupen, recken die Hände zum Siegeszeichen, sie winken und lachen. „Stimmt!!“, entfährt es mir. Im Radio hatten sie ja gemeldet, dass für DDR-Bürger die Grenze gefallen war. Ungarn hatte drauf geschissen, weiter alles dicht zu halten, gegen den Wunsch der Menschen. In Folge fahren tausende DDR-BürgerInnen nun in die Freiheit, in die Hoffnung auf ein besseres Leben. Und ich bin mittendrin, mitten im Trubel, mitten in der Euphorie, mitten im Glück und ahne, diese glücklichen Menschen läuten ein neues Zeitalter ein.
Kurz darauf fällt unter Jubeln der Welt die Berliner Mauer und der, sich durch ganz Europa schlängelnde Stacheldrahtzaun. Mit Mauer und Zaun gehen reihum die kommunistischen Regime unter. Es ist eine großartige Zeit, so viel Hoffnung macht sich breit, so viel Zusammenhalt, so viel Neugierde auf das Andere, jenseits der Grenzen. Bald erobere ich Städte in Polen, Tschechien und Rumänien!
1995 dann tritt Österreich der Europäischen Union bei und schon 2004 der Großteil jener Länder, die jahrelang hinterm Stacheldraht lagen. EUROPA. Die Grenzbalken öffnen sich für immer. Vorbei die Zeit der langen Warteschlangen an den Grenzen Richtung Deutschland. Wie sehr ich innerlich juble, als ich das erste Mal ohne kontrolliert zu werden rüber fahre nach Freilassing. Vorbei die kilometerlangen Staus vor Tarvis, auf dem Weg nach Italien. Offene Grenzen! Es ist wunderbar. Nicht nur wegen der fehlenden Staus und Wartezeiten. Die offenen Grenzen, das ist ein Gefühl von Freiheit, ein Gefühl von Zusammenrücken, von Zusammenwachsen. Immer öfters antworte ich auf meinen vielen Reisen, auf die Frage woher ich käme, stolz mit den Worten: Ich bin Europäerin! Europa, das ist für mich Frieden, Freiheit, Solidarität und Gemeinschaft. Europa das ist für mich ein positiver Blick in die Zukunft. Trotz mancher Probleme.
September 2015. Ich bin 50 Jahre alt und verzweifle gerade an meinem Europa. Mein positive Blick in die Zukunft weicht nunmehr Angst und Betroffenheit. Mein kraftvolles, freies und so reiches Europa mit über 400 Millionen Einwohnerinnen fürchtet sich derzeit zu Tode vor ein paar Tausend Flüchtlingen. Mein Europa errichtet erneut unüberwindliche Zäune. Wer hätte das 1989 gedacht, als wir glückselig jubelten. Mein Europa sperrt Schritt für Schritt Kriegsflüchtlinge aus, angeblich wäre das Boot voll, angeblich würden IS-Terroristen unter den Flüchtlingen sein. Und überhaupt, es wären zu viele. Mein Europa sperrt sich mit den neuen Zäunen neuerlich selbst ein, Schritt für Schritt, Zaun um Zaun. Mein wunderbares Europa begegnet Kriegsflüchtlingen, Babys, Kindern, Frauen und Männern mit Wasserwerfern und Tränengas. Mein wunderbares, offenes Europa wandelt sich zu einem ängstlichen, engen Europa und verliert sich in einer irrationalen Hysterie.
Mein Europa ist gerade dabei seine Würde zu verlieren und all seine Werte zu verraten. Mein Europa gibt sich gerade selbst auf.
Und ich, die ich 1989 den Jubel erlebt habe, das erhabene Gefühl frei zu sein, das Glück der Aufbruchsstimmung in eine gute Zukunft, die ich mitgejubelt habe, mich über die neue Freiheit gefreut habe, die ich dachte die offenen Grenzen würden auch unseren Geist öffnen, könnte nur noch heulen…….nur noch heulen.
Mein einziger Strohhalm derzeit: Die Solidarität der vielen helfenden Menschen. Die Solidarität jener Europäer, die nicht vergessen haben, wofür mein, unser aller Europa steht.
Rochus Stordeur meint
nein, unser europa hat vielleicht eine krise, eventuell eine kinderkrakheit, aber keinen rückfall in die zeit der grenzen.
beste grüße
rst
Sonja Schiff meint
ich hoffe das auch…
rochus gratzfeld meint
Wir erleben in diesen Tagen, dass es keine „United States of Europe“ gibt. Dafür war die Zeit seit 1989, exakter seit 1945, auch viel zu kurz. Wir erleben ein Aufblühen der nationalen Interessen. Insbesondere in den Staaten, denen Europa die Freiheit gebracht hat. Neue Zäune werden errichtet, die nicht nur aus- , sondern ebenso eingrenzen. Sattheit schafft geilen Geiz. Führer werden wieder gesucht als Alternative zu führungsschwachen Parteifunktionären. Alte Feinde werden ausgegraben. Die Invasionen der Türken vor wie viel hundert Jahren zur Rechtfertigung gegenwärtiger antimuslimischer Haltungen herangezogen, was an Dummheit nicht zu überbieten ist. Die Integration der Türkei in die EU wurde ausgesessen und machte Erdogan erst möglich. Europa steht für mich an einem Scheideweg. Hin zum UNITED oder zurück zum DIVIDED. Ich werde es wohl noch erleben.