Seit einiger Zeit lade ich Menschen über 50 ein, auf ganz spezielle Art einen biografischen Rückblick zu machen. Ich frage nach den 5 Lebensbüchern, nach 5 Lebensfilmen oder 5 Lebensplatten/ Lebensmusikalben. Die Texte werden veröffentlicht in der Rubrik Meine 5 Lebens… so entsteht nach und nach ein wunderbares Sammelsurium an kleinen Biografien und Erinnerungen.
Dieses Mal hat mir Karin Grössing, Wechseljahre-Beraterin und Pretty-Old Multiplikatorin, einen Text geschickt zu ihren 5 Lebensplatten.
Die 5 Lebensplatten von Karin Grössing
Mein Musikgeschmack ist eklektisch – wie auch einst Whoopi Goldberg im Film „Sisteract“ von sich behauptete – und aus meiner Sammlung fünf Lebensplatten auszuwählen, war keine leichte Aufgabe, denn jede einzelne ist mit persönlichen Erinnerungen verbunden. Der Einladung von Sonja Schiff zu folgen, hat monatelang gedauert und eine intensive Reise in die Vergangenheit ausgelöst, die nicht nur im Kopf stattfand, sondern tief emotional geprägt war. Biografiearbeit – at its best!
Ich beginne mit meiner zuletzt gekauften Platte, vor knapp 20 Jahren:
#1 Gabriella Ferri – Simmo e napule
Diese Sängerin mag ich deshalb so gerne, weil ich kein Wort „Neapolitanisch“ verstehe, mich aber der Klang sehr berührt. So geht´s mir zwar auch bei Ofra Haza, aber sie habe ich nur auf CD.
Manchmal setze ich mich in Wien in Lokale oder gehe an Plätze wo überwiegend eine mir fremde Sprache gesprochen wird, dann höre ich zu und denke mir aus, worüber wohl gesprochen werden könnte. Nichts zu verstehen „säubert“ meinen Kopf. Meines Erachtens ist es auch ein gutes Training für mich im Umgang mit demenzkranken Menschen. Hinhören und ein Verständnis entwickeln, wo es kein sprachliches Verstehen mehr gibt.
Gabriella Ferri war eine italienische Pop-Sängerin und Cabaret-Künstlerin, die unter Depressionen litt und 2004 an den Folgen eines Sturzes vom Balkon ihrer Wohnung mit 62 Jahren verstarb.
#2 Wolfgang Ambros – Selbstbewusst
Meine erste Sammlung begann mit Ambros. Als ich als junge Frau vom Weinviertel nach Wien zog, fühlte ich mich nicht nur sehr erwachsen, sondern auch frei, befreit von der Enge der „Dörflichkeit“ und so besuchte ich, Anfang der 80er Jahre mein erstes Openair-Konzert.
Im Vorprogramm vom Ambros war einerseits Reinhard Fendrich, der auf der Bühne vorm Ambros auf die Knie fiel, vor lauter Ehre (so seine Worte) und Stefanie Werger, die leider nicht so gut ankam. Die Abfälligkeit, mit der über ihr Aussehen gelästert wurde, hat mich maßlos geärgert und beinahe dazu geführt, dass ich das Konzert aus Protest verließ – doch weil das nichts bewirkt hätte, habe ich beschlossen, bei jeder gekauften Ambros-Platte auch eine Werger-Platte zu kaufen, nicht wegen ihrer Musik, sondern aus Frauen-Solidarität.
#3 Zupfgeigenhansel – Liebeslieder
1983, meine Tochter war noch ein Baby, da ging ich mit ihr für ein paar Monate nach Deutschland /Neckargröningen, als Kinderfrau gegen Kost und Logis, um eine Frau und ihre Familie zu unterstützen, die ich in Wien kennenlernte. Der Familienvater war wegen einer psychiatrischen Erkrankung monatelang in einer Klinik und die Familienmutter stand nun mit einer neun Monate alten Tochter und einem fünfjährigen Sohn alleine da. Während sie arbeiten ging, kümmerte ich mich um alle Kinder und den Haushalt.
Damit ich mal aus der „Kinderfürsorge“ rauskam, hat sie mir eine Konzertkarte von Zupfgeigenhansel in Ludwigsburg geschenkt. Ich war tief beeindruckt von der Präzession, mit der die Musiker_innen auf der Bühne gespielt haben und als Kind der Arbeiterklasse von ihrer Musik sowieso. Wenn ich sie heute auflege, spüre ich den Herbstnebel in Neckargröningen, sehe die alten Fachwerkhäuser und rieche Apfelmost mit Zwiebelkuchen.
#4 Muddy Waters – In Memoriam
Mitte der 80er Jahre lebte ich mit meiner kleinen Tochter in einem Vorort von Wien, mit Garten, weil ich meinte, das Aufwachsen mit mehr Naturnähe wäre gut für´s Kind.
Zu jener Zeit pflegte ich regelmäßigen Kontakt zu zwei Männern, die vorm Ceaușescu-Regime in Rumänien fliehen mussten. Nun, das kam in der Nachbarschaft nicht gut an und die Kinder durften nicht mehr mit meiner Tochter spielen. Fremdenfeindlichkeit ist keine Neuerscheinung!
Wir sind daraufhin wieder in die Stadt gezogen. Von den geflüchteten Männern habe ich viel über Blues gelernt und sie haben mir Muddy Waters geschenkt. Im Gegenzug habe ich versucht ihnen zu vermitteln, wie es sich hier in Österreich so lebt, mit Rechten und Pflichten, zugegebenermaßen aus (m)einem feministischen Blickwinkel. Die beiden Männer sind übrigens nach Amerika weitergezogen.
#5 Pink Floyd – Wish you were here
„Wish you were here“ war, neben griechischer Musik, das einprägsamste Lied für mich, als ich für einige Zeit mit meiner kleinen Tochter zur Aussteigerin in Griechenland wurde. Sei´s am Strand gewesen oder in den Hippiehöhlen. Wo immer sich Reisende mit Gitarre fanden, wurde auch dieses Lied gespielt – für mich, wenn ich grad ein bisschen Liebeskummer hatte.
Wie es zum temporären Ausstieg kam? Ich habe damals als sehr engagierte Diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester „Am Steinhof“ (Psychiatrie) gearbeitet. Ständiger Personalmangel und Widerstand meiner Kolleg_innen gegenüber Verbesserungsvorschlägen haben mich ermüdet, zeitgleich hat der Kindesvater meiner Tochter mitgeteilt, er will sie nicht mehr sehen, weil seine neue Frau dagegen ist. Hinzukam so etwas wie Torschlusspanik vor der bevorstehenden Schulpflicht meiner Tochter, was meine Befürchtung „Schluss-mit-Freiheit“ nährte.
Meine Tochter schwärmt heute noch von dieser Zeit, obwohl wir „von-der-Hand-im-Mund“ lebten und nur mit einem Rucksack quer durch Kreta reisten. Ich habe wohl hunderte griechische Salate gegen Kost und Logis zubereitet und eine Gastfreundschaft erlebt, die ihresgleichen sucht, wobei mir (uns) die Kinderfreundlichkeit der Griech_innen sicher sehr zugute kam.
Plattenspielen ist ein unvergleichliches Ritual, das Aussuchen, aus der Hülle nehmen, der prüfende Blick auf Kratzer oder Staub, auf den Plattenteller legen, die Nadel behutsam auflegen und vielleicht sogar ein leichtes Krammeln&Kratzen hören. Unvergleichlich!
Danke Sonja Schiff, denn die Lebens-Plattenreise hat mich auch in zärtliche Berührung mit meinen anderen Platten gebracht, wie Patti Smith, Nina Hagen, Zarah Leander, Dalia Lavi, Janis Joplin, AC/DC, ZZ-Top, David Bowie, Reinhard Mey, Rolling Stones, Santana, Klaus Nomi, Patti La Belle u.v.m.
———————————————————————————–
Wer jetzt nicht nur nachlesen, sondern auch nachhören will, kann nachfolgend von jedem/ jeder der von Karin Grössing genannten MusikerInnen ein Youtube-Video hören/ sehen:
Schreibe einen Kommentar