Eigentlich wollte ich zu Durch Mauern gehen, der Autobiografie von Marina Abramović gar keine Rezension schreiben. Viel zu befangen erlebe ich mich, um eine nur annähernd sachliche Stellungnahme abzugeben. Viel zu begeistert mein Blick auf die Künstlerin, deren Werdegang ich verfolge seit meinem 20. Lebensjahr und die ich damals zu einer meiner Ikonen auserwählt habe. Viel zu streng aber auch gleichzeitig mein Blick auf sie, viel zu hoch meine Erwartungen. Ikonen dürfen einfach keine Unzulänglichkeiten zeigen.
Nein, ich wollte ihre Autobiografie nicht kommentieren. Aber dann wurde ich mehrmals gefragt, wie mir das Buch gefallen hat und ob ich bald darüber schreiben würde. Also habe ich mich jetzt doch entschieden eine gnadenlos subjektive Rezension hier auf meinen Blog abzuliefern.
Ein paar Worte zuvor über meinen persönlichen Bezug zu Marina Abramović:
Ich war etwa 20 Jahre alt als ich begann Galerien und Kunstmuseen zu besuchen. Aus einer kunstfernen Familie stammend (mein Vater pflegte zu sagen: Kunst kommt von Können), musste ich mir meinen Blick auf Kunst erst erarbeiten. „Was ist eigentlich Kunst? Wozu braucht es Kunst? Was schafft Kunst?“ waren Fragen, die mich intensiv beschäftigten. Am Anfang stand vor allem die Neugierde auf diese mir fremde Welt. Mir gefielen die vielen schicken und scheinbar coolen Menschen, die in Galerien herumwanderten und ich möchte die stille und andächtige Atmosphäre in Kunstmuseen. Bei einem meiner ersten Museumsbesuche sah ich ein Video von Marina Abramović, es war die Performance „Art Must Be Beautiful“ aus dem Jahre 1975, eine ihrer ersten Arbeiten. In dieser Performance bürstete sich Abramović eine Stunde lange intensiv ihre langen Haare und wiederholte dabei die Sätze „Art must be beautiful“ und „Artists must be beautiful“. Je länger die Performance dauerte, desto schmerzhafter wurde für Abramović das Bürsten der Haare, sie fing an zu stöhnen und seufzen, man sah den Schmerz in ihrem Gesicht. Ich bin insgesamt drei Mal ins Museum gegangen, um mir diese seltsame Frau beim Bürsten ihrer Haare anzusehen. Der Grundstein für meine Begeisterung für Performance Art war gelegt und bis heute ist sie (neben Installationen) meine bevorzugte Kunstrichtung.
Es gibt viele großartige Performance-Künstlerinnen – Carolee Schneemann, Yayoi Kusama, Yoko Ono, Yves Klein, Valie Export, Hermann Nitsch, Joseph Beuys, um nur einige zu nennen – aber es war Marina Abramović (12 Jahre in Zusammenarbeit mit ihrem Partner Ulay), die Performance Art zu ihrer Anerkennung geführt und sie einem breiten Publikum nahe gebracht hat. Für mich persönlich ist Marina Abramović die kompromissloseste und ausdauerndste aller Performance-Künstlerinnen. Trotz gnadenloser Kritik, etwa sie wäre nur eine perverse Masochistin, hat sie weiter und immer weiter gemacht. Sie hat Maßstäbe gesetzt, mit ihren Inhalten, mit der Dauer ihrer Performances und mit der Vermarktung von Performance Art. Sie ist im Kunstbereich meine „Heldin“.
Jetzt also ihre Autobiografie Durch Mauern gehen. 469 Seiten dick. Ich habe sie in 5 Tagen ausgelesen, geradezu verschlungen.
Zitat vom Klappentext:
„Ich hatte die totale Freiheit erfahren- ich hatte gespürt, dass mein Körper grenzenlos war; dass Schmerz keine Rolle spielte, dass überhaupt nichts eine Rolle spielte – und es war berauschend.“
Der Inhalt:
Das Buch zeichnet das Leben von Marina Abramović, von ihrer Geburt 1946 im früheren Jugoslawien, als Kind von Partisanen und Nationalhelden, bis zum Jahr 2016, als anerkannte und umjubelte Künstlerin in New York. Die Autobiografie beinhaltet ihr berufliches, wie auch ihr privates Leben.
Nachzulesen ist ihre Kindheit in, für jugoslawische Verhältnisse, materiellem Wohlstand, aber großer emotionaler Lieblosigkeit. Die Zeit des Kunststudiums in Belgrad und Zagreb, ihre lange Suche nach der für sie richtigen Kunstform und das Entdecken von Performance Art. Sehr detailreich berichtet Abramović danach von ihren allerersten Performances, etwa der Serie Rhythm (Rhythm 10, 5, 2 und 0) und „Cleaning the Mirror“. All ihren Performances gemeinsam war, dass sie ihren eigenen Körper als Performance-Instrument einsetzte, an ihre körperlichen Grenzen ging und auch Selbstverletzungen nicht ausschloss, je diese sogar ins Konzept der Performance mit aufnahm.
Viel Raum gibt Abramović in ihrer Autobiografie dann dem gemeinsamen Leben und Arbeiten mit dem deutschen Künstler Ulay. Sie lernte ihn 1976 während eines Aufenthaltes in Amsterdam kennen. Er wurde ihr von der Galerie als Begleiter zur Seite gestellt und als er nach ihrer Performance „Thomas Lips„, während der sie sich mit einer Rasierklinge ein Pentagramm auf den Bauch ritzte, die Wunden versorgt, begann eine der berühmtesten Liebesgeschichten in der modernen Kunst. 12 Jahre lang bildeten die beiden ein kongeniales Liebes- und Performance-Paar, sie lebten in einem umgebauten Kleinbus, tingelten von Performance zu Performance und feierten große Erfolge in Performance Art. Ihre intensive Beziehung beendeten die beiden im Rahmen einer Langzeitperformance auf der Chinesischen Mauer.
Nach dem Ende dieser Beziehung, in der Marina Abramović privat die sehr klassische Frauenrolle als Versorgerin innehatte, fühlte sie sich nicht nur einsam und alleine, sie kämpft auch um ihre wirtschaftliche Existenz. Nur nach und nach eroberte sie auch als Einzel-Performance Künstlerin Europa. Um 2000, sie hatte das Gefühl Amsterdam und Europa würden ihr zu eng, übersiedelte Abramović nach New York und begann auch dort wieder von vorne, denn in Amerika war sie bis dahin unbekannt. Ihren ersten Durchbruch schaffte sie mit dem Stück „The House with the Ocean View“, einer Langzeitperformance von 12 Tagen. Sie wurde schlagartig bekannt, die Türen zur New Yorker Gesellschaft öffneten sich für sie, Kontakte zu bekannten Künstlerinnen entstanden, zu Designern und Theaterleuten und so entstanden viele Möglichkeiten sich als Künstlerin sichtbar zu machen.
Ein weiterer großer Schwerpunkt im Buch ist die Entstehung und Durchführung jener Performance, mit der Marina Abramović 2010 Weltruf erlangte. Anlässlich einer im MoMa aufgeführten Retrospektive ihrer Arbeit wurde die Langzeitperformance „The Artist is present“ aufgeführt. Während der gesamten Dauer der Ausstellung, vom 14. März bis 31. Mai 2010, 736 Stunden lang, saß Marina Abramović in einem Raum auf einem Stuhl und jede BesucherIn konnte sich ihr gegenüber setzen, so lange er/ sie wollte. Die Menschen standen Schlange, um auf dem Stuhl Platz zu nehmen und Marina Abramović in die Augen zu sehen. Viele davon waren sehr berührt, weinten und auch die Künstlerin selbst erlebte intensive Gefühle. Jeder Besucher, der ihr gegenüber Platz nahm, wurde von Marco Anelli fotografiert und es entstand ein Bildband. Außerdem wurde die Performance gefilmt, von der Vorbereitung über die Durchführung bis zu ihrem Ende, und feierte auch als Dokumentarfilm The Artist is Present große Erfolge. Hier ein Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm, es ist die berühmte Szene wo sich Ulay, der ehemalige Lebenspartner und Kunstpartner zu ihr an den Tisch setzt.
Am Ende ihrer Autobiografie erzählt Marina Abramović, wie sie ihr Vermächtnis langfristig absichern möchte. Sie hat sich dran gemacht eine Art Akademie zu gründen und gibt ihr Wissen, ihre Erfahrungen weiter an junge, aufstrebende KünstlerInnen. Sie ist aber auch dabei Performance weiter zu entwickeln. Ihr Ziel ist es für BesucherInnen Performance erlebbar zu machen, ja BesucherInnen selbst zu PerformerInnen zu machen.
Mein literarischer Blick auf die Autobiografie
Als eine die Sprache und Bücher liebt, bin ich von der Autobiografie eher enttäuscht. Ich finde das Konzept der Memoiren banal und irgendwie fast bieder. Da hätte ich mir von Marina Abramović mehr Mut und mehr Kreativität erwartet. Sprachlich ist das Buch aus meiner Sicht fast ein wenig lieblos. Viele Textstellen sind oberflächlich und unnötig lange, einige Textstellen schrecklich banal und irrelevant. Einige Male hat sich bei mir die Frage gestellt: „Muss ich das wirklich über die Künstlerin wissen? Möchte ich das wissen?“
Ein wenig wirkt das Buch als hätte jemand aus der genialen Marketingmaschine rund um Marina Abramović die Idee geboren, dass jetzt auch noch schnell eine Autobiografie her muss, solange „der Laden“ läuft. Mit Erfolg, denn das Buch ist ein Bestseller. Ich will dieses perfekte Marketing nicht abwerten. Abramović hat sich ihren Erfolg schwer verdient und ich zolle ihr auch meinen Respekt dafür, dass sie es versteht sich zu verkaufen. Es gibt ohnehin viel zu viele Frauen, die in Geldsachen den Kopf einziehen. Aber das Buch hätte liebevoller gestaltet werden können, die Texte hätten dichter sein können, tiefer und intensiver. Ich denke sie hätte einen anderen Autor gebraucht. Vielleicht auch besser eine Frau (der Ghostwriter ist James Kaplan), eine die mit ihr das Erlebte mehr sortiert hätte und die mit ihr auch das Leben reflektiert hätte, die ein bisschen mehr in die Tiefe geschürft hätte im Gespräch, ein wenig an der Fassade der Selbstdarstellung gekratzt.
Mein inhaltlicher Blick auf die Autobiografie:
Die Autobiografie gibt einen guten Überblick über das Leben und das Arbeiten von Marina Abramović. Ich fand es spannend von ihren Anfängen zu lesen, davon welchen Background sie hat, wie sie ihre Performances entwickelt, wie sie zu der wurde, die sie heute ist. Insgesamt war es mir dann aber doch zu sehr nur eine Anreihung von Performances, Liebschaften, Freundschaften und Lebensorten. Eben Selbstdarstellung als Marketingziel.
Ich hätte mir mehr Tiefgang gewünscht im Lebensrückblick, mehr Reflexion und auch mehr Einblick in prägende Begegnungen. So meint Abramović etwa, dass sie Joseph Beuys getroffen hat und er sie inspiriert hat, aber die LeserIn erfährt kaum etwas von dieser Begegnung und auch nichts von der Art der Inspiration. Ebenso verhält es sich mit Kontakten zu Valie Export und Hermann Nitsch, um nur einige zu nennen, und auch ihre Freundschaft mit Susan Sontag wird zwar genannt, sie erzählt von häufigen Treffen, aber nicht davon was sie mit der amerikanischen Autorin verband. Die Autobiografie bleibt an der Oberfläche, verliert sich aber gleichzeitig immer wieder in für mich irrelevanten Kleinigkeiten und Banalitäten.
Mein Blick auf die Autobiografie als großer Fan von Marina Abramović
Als Fan habe ich die Autobiografie verschlungen, Banalitäten habe ich großzügig überflogen, schlechte Sprache und Phrasenwiederholungen habe ich milde zur Kenntnis genommen. Insgesamt hat mich das Buch berührt, betroffen gemacht und auch inspiriert. Nachdem ich mit dem Buch fertig war, habe ich mir noch den Film „The Artist is present“ angesehen (den ich schon zig Male gesehen habe) und in der Nacht darauf habe ich davon geträumt, dass ich Marina Abramović begegne, mit ihr rede und sie mich sogar umarmt! Was will man mehr von einem Buch :-)
Betroffen gemacht hat mich die Erkenntnis, dass ihre Performances tief in ihrer lieblosen Kindheit begründet sind und immer etwas psychotherapeutisches haben. Im Film „The Artist is present“ meint ihr Galerist auch, es ginge immer, in jeder Performance, darum, dass sie geliebt werden will.
Nichts desto Trotz bin ich von der Künstlerin Abramovic beeindruckt. Vor allem von ihrer Konsequenz und Kompromisslosigkeit. Mir war immer bewusst, dass Schmerz in ihren Performances eine große Rolle spielen. Aber es war mir nicht klar, wie stark ihre Schmerzen oft sind, was sie da eigentlich auf sich nimmt. Bei „The Artist is present“, der Langzeitperformance im MoMa, während der sie 2,5 Monaten lang täglich 8 – 10 Stunden regungslos auf einem Stuhl saß und den Menschen in die Augen sah, hatte sie bereits am ersten Tag, nach nur wenigen Stunden, starke Schmerzen. Ihr wurde klar, dass sie in den Vorbereitungen einen schweren Fehler begangen hatte, sie hatte sich einen Stuhl ausgesucht ohne Armlehnen. Eine Tatsache, die sie am nächsten Tag schon ändern hätte können. Tat sie aber nicht. Sie behielt den Stuhl, weil sie sicher war, Armlehnen hätten die Qualität der Performance verändert. Also saß sie 736 Stunden auf diesem Stuhl ohne Armlehnen und ging durch unglaubliche Schmerzen. Tag für Tag.
Erstaunt hat mich, dass sich die große Künstlerin Marina Abramović als Frau in Beziehungen sehr traditionell verhalten hat, denn immer ist sie die „Umsorgende“ und nach Trennungen verliert sie sich emotional. Ihr positives Körpergefühl und Selbstbild als Frau ist eng gekoppelt an das Vorhandensein eines (sexuellen) Partners. Mehrmals erzählt sie wie „unattraktiv und fett“ sie sich fühlen würde, wenn sie alleine ist. Das überraschte mich dann doch und irgendwie habe ich da sogar ein wenig Mitleid mit meiner Ikone. Da würde ich ihr mehr Autonomie wünschen, mehr innere Freiheit.
Wenn ich mir nach dieser Erkenntnis das Titelbild der Autobiografie ansehe, dann denke ich mir zudem, dass sie sich wohl auch deshalb schwer tut mit ihrem alternden Körper, denn das Titelbild zeigt ein penibel mit Photoshop bearbeitetes Portrait ohne Falten und nicht das Gesicht einer 70 jährigen Frau.
Die Künstlerin Marina Abramović, meine Ikone, ist also letztlich auch einfach nur ein Mensch. Wie tröstlich.
Durch Mauern gehen
Marina Abramovic, 2016, 474 Seiten
bernhard jenny meint
danke für diese sehr gut beschriebenen einblicke…
Maria meint
Ehrlich: viel spannender finde ich deine Ein-Blicke, deinen Weg in die Kunst….
Nicht etwa, dass ich Marina Abramovic NICHT lieben würde, ganz im Gegenteil… Aber manchmal ist es auch eine Frage des Mediums. Wer körperlich so ungeheuer präsent sein, so unmittelbar im Provokativen arbeiten kann, so in sich selbst konsequent-genial ist… der muss nicht auch noch ein Gefühl für geschriebene Sprache haben….
Schließlich hat sie das Buch ja nicht selbst geschrieben…
Herzlich
Maria