„Kinder dreht Euch nicht um. Kinder dreht Euch nicht um!“ hallt es gellend und verzweifelt durch das Linzer Seniorenheim. Mein Vater bleibt am Eingang stehen, wird blass im Gesicht, flüstert mit leiser Stimme: „Jetzt weiß ich, was damals passiert ist“ und beginnt zu weinen.
Das Pflegepersonal hatte uns gerufen. Es ist verzweifelt, weiß nicht mehr aus und ein, denn meine Großmutter schreit seit Tagen, ohne Unterbrechung und wer sie hört weiß, sie schreit um ihr Leben. „Kinder dreht Euch nicht um! Kinder dreht Euch nicht um, bitte dreht Euch nicht um“.
Er war drei Jahre alt, als sie aus dem Banat, heutiges Serbien, flüchten musste. Volksdeutsche waren nicht mehr erwünscht, sie sollten dorthin zurück wo sie herkamen. Also nach Deutschland, ein Land das Generationen davor verlassen mussten, vertrieben aus Glaubensgründen. Aber jetzt mussten sie zurück. Wer nicht ging, hatte Pech. Die Grausamkeit der Partisanen war bekannt.
Also nichts wie weg, Haus und Hof liegen lassen, die eigene Haut und die der vier Kinder retten und laufen, einfach laufen. Ums Leben laufen.
Plötzlich, nach vielen Tagen des Versteckens tagsüber und Rennens in der Nacht, standen sie vor ihnen, die Partisanen. Ein Rudel Männer. Sie trieben meine Großmutter und ihre Kinder in eine Kirche, stießen sie hinein, mein dreijähriger Vater klammerte sich an die Hand seiner Mutter. „Auseinander, auseinander“ riefen die Partisanen und trennte die Mutter von den Kindern.
Die drei Mädchen und der kleine dreijährige Bub mussten sich mit Blick zum Altar aufstellen. Sie sollten zum Herrgott beten und “ja keinen Mucks von sich geben“, meinte ein grobschlächtiger Partisane und lachte dabei dreckig.
Die Männer stöhnten und seufzten wie die Tiere hinter ihren Rücken, sie lachten und gröhlten. Meine Großmutter schrie gellend: Kinder dreht Euch nicht um! Dreht Euch nicht um! Dreht Euch nicht um!“ Die Zeit blieb stehen.
Die Seele des dreijährigen Buben, heute mein Vater, hat dieses Erlebnis verdrängt, um selbst überleben zu können. Meine Großmutter hat ihr ganzes Leben nie über ihre Flucht mit den Kindern berichtet. Sie hat gearbeitet und versucht der kleinen vaterlosen Familie, mein Großvater starb vor Stalingrad, eine Zukunft zu ermöglichen. Jetzt mit 82 Jahren und in der Demenz versunken, kann sie das Erlebte nicht mehr wegschieben. So gellen ihre Schreie seit Tagen durch das Seniorenheim: „Kinder dreht Euch nicht um, dreht Euch nicht um, bitte dreht Euch nicht um “.
Ich bin die Enkelin einer im zweiten Weltkrieg geflüchteten Frau. Diese hat mir immer und immer wieder gesagt, wie dankbar sie den Menschen in Österreich dafür ist, dass sie hier eine neue Heimat finden durfte. Sie hat mir beigebracht, großzügig zu sein und mein Glück nicht auf Kosten anderer Menschen aufzubauen.
Ich bin deshalb mittlerweile allergisch und richtig wütend auf Politiker und Journalisten, die polemisieren und dramatisieren was das Thema „Flüchtlinge“ betrifft und damit die Stimmung in diesem Land Tag für Tag mehr verdüstern.
Niemand sagt, dass Österreich alle Flüchtlinge aufnehmen muss und, mit Verlaub, Österreich ist auch sehr weit weg davon, das zu tun.
In letzter Zeit habe ich genau ein Medium erlebt, sonst eigentlich bekannt für reißerische Storys a la Kronenzeitung, das wirklich sachlich informiert hat über das Thema Flüchtlinge. Hier der Link dazu. Dieses Medium hat auch seinen LeserInnen mitgeteilt, dass es die Hetze gegen Flüchtlinge nicht mehr weiterführen wird. Meine ausdrückliche Hochachtung vor diesem Medium. DANKE!
An alle Anderen, an Journalisten, Politiker und Menschen: Als Enkelin einer Flüchtlingsfrau bin ich erschüttert darüber, wie Österreich und die EU heute mit Menschen umgeht, die um ihre nackte Haut laufen, die vor Krieg und IS flüchten, die aus von uns ausgebeuteten Ländern flüchten, weil sie dort keine Existenzgrundlage mehr haben.
Was genau schlagen Sie als Lösung vor?
Zuschauen wie die Menschen vor unseren Augen verrecken???? Die Menschen vor unserer Grenze krepieren lassen? Oder besser weit weg, im Zeltstädten in der Wüste, damit wir deren Leid nicht sehen müssen? Ist es das, was Sie wollen??
Die heute alten Menschen, die dieses Land aus den Trümmern des zweiten Weltkrieges wieder aufgebaut haben, haben damals großzügig Flüchtlinge aus Siebenbürgen, Sachsen, Banat, Tschechien aufgenommen. Warum? Vielleicht, weil sie selbst wussten, was Elend wirklich bedeutet?
Wir aber, die wir fett und satt sind, haben Angst vor Menschen auf der Flucht. Wovor genau? Davor, dass unser Schnitzelteller vielleicht kleiner wird? Davor, dass wir unseren Konsumwahn ein wenig reduzieren müssen? Davor, dass wir ein kleines Stück abgeben müssen von unserem Wohlstand?
Mich kotzt die Polemik an. Mich kotzt die Hetze an. Mich kotzt es an, wie dieses Land mit seinen angeblich christlichen Wurzeln kleingeistig, kalt und herzlos geworden ist und Tag für Tag noch mehr wird.
Foto: Pixabay.com
Der Artikel ist am 3. Juni 2015 zuerst auf der Plattform Fisch + Fleisch erschienen.
rochus gratzfeld meint
„Mich kotzt die Polemik an. Mich kotzt die Hetze an. Mich kotzt es an, wie dieses Land mit seinen angeblich christlichen Wurzeln kleingeistig, kalt und herzlos geworden ist und Tag für Tag noch mehr wird.“
Dem kann ich nichts hinzufügen.
Wolfgang Grammel meint
Als Sohn eines Flüchtlings geht es mir ähnlich. Es ist unerträglich zu sehen, wie schäbig sich ein leider großer Teil der Gesellschaft verhält. So gut wie alle nutzen die materiellen Dinge, Kaffee, Tee, Schokolade, Datteln, Reis, Kiwi, Mango, Papaya, Bekleidung in Bangladesch, Indien oder China gefertigt, und und und, die Aufzählung ließe sich fast endlos fortsetzen. Sobald es aber um die Menschen geht, die uns diese Dinge anbauen, produzieren und deren Nutzung erst ermöglichen: „Wir aber, die wir fett und satt sind, haben Angst vor Menschen …“, vor diesen Menschen. Welch eine Überheblichkeit tritt hier zutage. Wir sind so zufällig hier in diese Region geboren worden, wie alle anderswo Geborenen, dies nicht beeinflussen konnten. Globalisierung nur auf der materiellen Ebene bringt den Ruin der Menschheit. Wir MÜSSEN die Menschheit als Einheit anerkennen und danach handeln. Und das ist eine dringend notwendige geistige Entwicklung. „Es rühme sich nicht, wer sein Vaterland liebt, sondern wer die ganze Welt liebt. Die Erde ist nur ein Land und ALLE Menschen sind seine Bürger.“
Horst Konrad meint
Ja, das ist die Wahrheit, die sich alle Menschen guten Willens zur Grundlage ihres Denkens und Handelns machen sollten.