Gestern habe ich einen schönen Abend verbracht in einer türkischen Familie. Mein Mann und ich waren zum Essen geladen, türkisches Essen natürlich, danach schwarzen Tee und Baklava. Davor, dazwischen und danach Lebensgeschichten. Wie die Familie in Österreich ankam, wie sie es geschafft hat hier auch wirklich zu landen, was sie erreicht hat in diesem fremden Land, welches ein Stück Heimat wurde.
Den ganzen Abend dachte ich dabei an ein Seminar, das ich vor etwa zwei Jahren bei Jörg Fuhrmann, einem Altenpfleger besucht habe. Das Seminar trug den Titel „Koffer für die letzte Reise“ und es ging dabei um den „inneren Koffer“ den jeder von uns trägt bis zum letzten Augenblick des Lebens. Der ist gefüllt mit unseren Erinnerungen, mit den Dingen auf die wir stolz sind, die uns im Leben Freude gemacht haben. Aber er ist auch gefüllt mit unserer Verzweiflung, mit dem Schmerz den wir erfahren haben, mit unserem Scheitern und unseren Versäumnissen.
Gestern habe ich wieder festgestellt, wie sehr jeder „Lebenskoffer“anders gefüllt ist. Zwar machen wir alle Erfahrungen der Freude, des Schmerzes, des Glücks oder des Scheiterns, aber in Verbindung mit der eigenen Prägung, mit der eigenen Kultur, mit dem eigenen Lebensweg, sind unsere Erfahrungen niemals vergleichbar.
Ich werde niemals nachvollziehen können, wie es sich anfühlt in einem fremden Land anzukommen, Ablehnung zu erfahren, sich hoch zu kämpfen und es zu schaffen, hier als Mensch akzeptiert zu werden und eine „Karriere“ hinzulegen. Was es bedeuten kann zu Wohlstand zu kommen, ein großes Auto, eine Wohnung, Möbel kaufen zu können. Ich werde nie wirklich verstehen können, wie sich der Stolz anfühlt, wenn dann die eigenen Töchter studieren und sie es damit „einmal leichter haben werden“. Und ich werde wohl nie nachvollziehen können, warum Tradition so einen hohen Stellenwert bekommen kann.
Mein Koffer dagegen ist gefüllt mit Rebellion, mit der Abkehr von Tradition und dem innigen Wunsch nach freier Entscheidung. Ich wollte nie „jemand werden“, ich musste nie „etwas schaffen oder erreichen“, in meinem Leben war es bis jetzt immer wichtig tun zu können, was ICH möchte. Daher ist mein „Lebenskoffer“ voll mit Experimenten, mit Kreativität und Richtungswechsel. Freiheit ist und war mir wichtiger als ein neues Auto. Mich zu leben, war und ist mir wichtiger als Wohlstand zu erreichen. Meine Wohnung muss nur mir gefallen und sonst gar niemanden. Darum ist sie auch voll mit alten Möbeln, jedes Möbelstück hat seine eigene Geschichte und es ist genau diese Geschichte, die es für mich so wertvoll macht.
Gestern Abend wurde mir wieder einmal klar, wie sehr wir unser „Lebenskoffer“ sind, wie sehr er uns begleitet und welch große Rolle er in Begegnungen hat. Aber nicht nur in Begegnungen, sondern im gesamten Leben bis zum letzten Atemzug.
Wer wäre ich heute, hätte ich mein Land verlassen müssen? Wie würde mein „Lebenskoffer“ aussehen, hätte ich einen Krieg erlebt? Wie würde ich die Welt und mein Leben sehen, wäre ich Muslimin in diesem Land?
Vielleicht sollten wir viel öfters unseren Lebenskoffer öffnen und jemand anderen zeigen? Vielleicht sollten wir uns viel öfters für den Lebenskoffer eines anderen Menschen interessieren.
rochus gratzfeld meint
Reisekoffer des Lebens. Welch treffender Titel! Manche Koffer bleiben leer. Andere werden gefüllt, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Andere ihrer Bezeichnung gerecht. Sie reisen. Mit leichtem oder schwerem Gepäck.
Marianne meint
Koffer werden gehfüllt mit dem was einem unter die Hand geht. Natürlich kann man eine Wahl treffen, aber nur von dem was man Dir anbietet. Und es ist nicht immer das was man gerne haben möchte. Als Fremder hat man es doppelt so schwer für seine Leistung anerkannt zu werden und seinen Koffer mit schönen Erlebnissen zu füllen. Und das man etwas „erreichen „möchte, tja, es kommt darauf an aus welchen Gründen man in ein anderes Land gezogen ist. Und denk daran, liebe Sonja, alle Eltern möchten für ihre Kinder ein angenehmes Leben, ohne die Schwierigkeiten, die sie selbst hatten.
Sonja Schiff meint
da bin ich ganz bei dir, liebe marianne! danke für deinen kommentar!