Kürzlich habe ich hier auf meinem Blog den Artikel Mein Leben mit dem menopausalen Schwimmreifen gepostet und dabei erzählt, wie ich Frieden geschlossen habe mit dem Thema Gewicht und Schönheit. Der Artikel gehört zu den meistgelesenen Beiträgen meines Blogs und ich habe noch nie auf einen Artikel so viele Rückmeldungen (via Kommentare, Facebook, Messenger, Twitter, Mail) erhalten, wie auf diesen. Etwa 30% der Rückmeldungen waren positiv, im Sinne „Mir geht es genauso“ oder „Das kenne ich“ oder „Sehr humorvoll geschrieben“. 70% der Rückmeldungen aber waren gute Ratschläge, etwa wie ich doch abnehmen könnte, Tipps zu Ernährungsratgeber oder Ernährungsplattformen, Kritik an der fehlenden Korrektheit meiner Aussagen („Sie hängen Fettlogiken nach“), Kritik ich würde nur Ausreden für mein Übergewicht suchen, Beschimpfungen ich würde Fettleibigkeit schönreden und damit zur Schädigung des Gesundheitssystems beitragen und Einladungen zu Fettabsaugungen (kostenfrei, ich soll dafür darüber bloggen).
Was habe ich hier auf meinem Blog schon wirklich wichtige Beiträge geschrieben – zur Lage der Welt, zu rechter Politik, zu sinnlosen Kriegen, zu Menschenrechtsverletzungen und hungernden Kindern. Keine dieser Themen hat nur annähernd so viele Menschen interessiert und keiner der Artikel hat nur annähernd so viel Engagement und Beteiligung ausgelöst, wie der Artikel einer dicken Frau über ihren inneren Frieden mit sich selbst. Die Körperlichkeit einer Frau löst also mehr Aufregung aus, als sterbende Kinder in Syrien. Eine dicke ältere Frau, die sagt „Ich pfeife auf den perfekten Körper“ löst mehr Engagement aus, als Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land.
Die Rückmeldungen kamen zu 98 % von Frauen und zu 2% von Männern. Die wenigen rückmeldenden Männer wiesen darauf hin, dass auch ihr Geschlecht zunehmend mit Schönheitsvorschreibungen kämpfen würde. Kein einziger Mann kam auf die Idee mir Tipps zu geben oder fühlte sich aufgefordert meine persönliche Entscheidung im Umgang mit meinem Körper zu kritisieren. Spannend, oder? Es waren ausschließlich Frauen, die meinten ihren besserwissenden Senf abgeben zu müssen, ihre Kritik, ihre Sichtweise auf Schönheit und Gesundheit. Viele Rückmeldungen tarnten sich hinter Sachlichkeit, meinten aber immer dasselbe und mein Entgegentreten der gut gemeinten Anregungen wurde als fehlendes Zulassen anderer Meinungen interpretiert oder ich wurde beschimpft, mit welchen Worten erspare ich meinen Leserinnen.
Ist es nicht unfassbar, wie sehr der Frauenkörper immer noch ein Schlachtfeld darstellt und wie sehr sich hier vor allem Frauen untereinander den Krieg erklären? Ist es nicht einfach unglaublich, wie viel Zeit und Energie Frauen immer noch in das Thema Körperlichkeit stecken? Es gibt scheinbar nichts Wichtigeres als bis zur letzten Sekunde des Lebens gut auszusehen, nichts Wichtigeres als schlank und rank zu sein und gefälligst auch zu bleiben. Stunden unseres Lebens stehen wir vorm Spiegel und prüfen unser Aussehen, Stunden unseres Lebens verbringen wir auf der Waage und kontrollieren unser Gewicht, Stunden unseres Lebens kauen wir an Salatblättern, damit wir ja kein Gramm zunehmen und Stunden unseres Lebens strampeln wir auf Hometrainern oder zappeln schwitzend auf Crosstrainern, laufen auf Asphalt unsere Sprunggelenke kaputt, damit ja alles in Form bleibt und nichts aus den Fugen gerät.
Wie unglaublich viel Energie stecken wir Frauen in die Aufrechterhaltung unserer Fassade. Und was könnten wir Frauen bewegen auf dieser Welt, in unserem persönlichen Leben, würden wir aufhören permanent an unserer Hülle herumzupinseln und uns stattdessen den wirklich wichtigen Dingen zuzuwenden.
Die wunderbare und unangepasste Hella von Sinnen hat das kürzlich gut auf den Punkt gebracht. Nachdem sie von einer Journalistin auf ihr Gewicht angesprochen wurde, ist sie total ausgeflippt und meinte: „Warum sprechen Sie mich auf das verfickte Gewichtsthema an und nicht auf wirklich wichtige Themen?“
Ich bin mittlerweile 52 Jahre alt und nehme mir das Recht heraus, auf alle Vorschreibungen zu pfeifen. Je älter ich werde, umso mehr verschieben sich die Prioritäten. Was mal wichtig war, wird immer unwichtiger und vieles was ich früher als unwichtig betrachtete, wird immer wichtiger. Einen perfekten Körper zu haben ist mir nicht mehr wichtig, ich anerkenne körperliche Veränderungen wie Falten oder Gewichtszunahme als Lauf der Natur. Was übrigens nicht heißt, dass ich nicht auf mich schaue und mich pflege. Aber meine Energie geht heute in andere Dinge – ins Leben meiner Kreativität, ins Zeit haben für mir wichtige Menschen, ins Kennenlernen neuer Menschen, ins Anbauen meines eigenen Gemüses, ins Schreiben von Büchern, in meinen wunderbaren Beruf und in soziales Engagement.
An alle Frauen, die auf meinen letzten Artikel mit Ratschlägen, Tipps, Kritik, Anleitungen oder gar Beschimpfungen reagierten: Eure Rückmeldungen sind der Spiegel Eurer selbst! Mir zeigt der Wust an Rückmeldungen vor allem, dass Frauen immer noch in der Körperfalle feststecken. Schade um den Energieverlust! Was könnten wir Frauen erreichen, würden wir endlich aufhören vorrangig um uns selbst zu kreisen.
Fotos: Pixabay.com
Simone meint
Yay. Sonja! Genau so ist es. Wir könnten so vieles erreichen. Gemeinsam. Nicht gegeneinander. Danke für diesen Beitrag!
Karin Austmeyer meint
Wunderbar!!!
Claudia meint
Liebe Sonja, wenn du das Thema nun zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit am Blog zum Thema machst, dann steckst du im Grunde ebenfalls in der Körperfalle, denn wenn es so unwichtig wäre, dann würde es keinen Grund geben darüber zu schreiben. Ich stecke, so wie wohl die meisten Frauen ebenfalls in dem Thema. Ich hadere nämlich tatsächlich mit den unschönen Veränderungen meines alternden Körpers. Natürlich gibt es in meinem Leben unzählige, wesentlich wichtigere Dinge, als meine Figur, trotzdem würde ich lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mit ihr im Reinen bin. Ich darf mir übrigens, wenn ich diese Thematik anspreche, sagen lassen, ich soll doch froh sein, dass ich so schlank bin und dass ich wohl gute Gene hätte. Ja, ich bin schlank und war es immer. Mein Höchstgewicht von 63 kg vor der Krebsdiagnose fühlte sich für mich wie massives Übergewicht an. Sollte ich jemals noch in meinem Leben zunehmen, was sehr unwahrscheinlich ist, dann würde ich sicher massiv dagegen ankämpfen.
Ich denke, wir machen uns es gegenseitig nicht leicht. Die Schlanken unterstellen denen mit mehr Figur zu wenig Disziplin und die mit mehr Figur unterstellen den Schlanken, ihr Aussehn zu sehr in den Mittelpunkt zu stellen und es viel zu wichtig zu nehmen. Mehr Contenance auf beiden Seiten wäre manchmal ganz gut. Ich mag übrigens dich als Mensch und bewerte dich keinesfalls über dein Aussehen. Kaffee wäre wieder einmal fällig ;-) Liebe Grüße, Claudia
Sonja Schiff meint
Liebe Claudia, mein Artikel galt ja vor allem jenen, die meinten mir Ratschläge geben zu müssen. Dich kenne ich als eine Frau, die jeden lässt wie er/ sie ist und das schätze ich ungemein. Mir geh einfach dieses Gegeneider auf die Nerven, für mich darf jede dünn sein und jede auch dick sein, ist eine persönliche Entscheidung. ich mag weder ein Lästern über Dünne, noch ein Lästern über Dicke. Dass wir Frauen viel zu viel Energie ins Aussehen stecken sehe ich bei dick und dünn :-) und JA, Kaffee wäre wichtig! Termine über Facebook??