Es ist zwanzig Jahre her. Ich war damals etwa 30 Jahre alt und stand in hinterster Reihe auf einem Begräbnis. Die Mutter meines Chefs war verstorben, an gebrochenem Herzen, wie man so schön sagt, sie war nach nur einem halben Jahr ihrem Mann nachgefolgt.
Mein Chef stand ganz vorne, alleine. Einzelkind eben. Der ohnehin körperlich nicht große Mann wirkte noch kleiner als sonst. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen, beschützt, gehalten, getröstet. Aber er war nun mal der Chef. Und Chefs müssen da alleine durch.
Nachdem er Erde auf Erde geworfen hatte und mindestens hundert Menschen ihm Beileid gewünscht hatten, stand ich als Letzte vor ihm, reichte ihm meine Hand mit dem Ziel schnellstmöglich das Weite suchen zu können. Ich hasse nämlich Begräbnissen. Gräber und Friedhöfe besuche ich am liebsten alleine.
„Jetzt bin ich für niemandem mehr Kind“ hörte ich da meinen Chef flüstern. Ich hob ob dieses Satzes den Kopf, blickte in sein Gesicht und sah wie ihm Tränen über die Wangen liefen. Vor mir stand, in der Hülle eines erwachsenen Mannes, ein kleiner Bub und betrauerte das Ende seiner Kindheit.
Ich wusste gar nicht wie mir geschah. Einerseits war ich betroffen, andererseits erschien mir dieser Satz irgendwie skurril. „Jetzt bin ich für niemanden mehr Kind.“ Was für ein seltsamer Gedanke für einen Mann jenseits der 50. So meine damalige Sicht.
Vor ein paar Tagen hatte ich ein tolles Arbeitsangebot erhalten und wollte meine Freude unbedingt via Facebook mit meinen Freunden teilen. Also erzählte ich euphorisch von meiner neuen Herausforderung. Für meinen Eintrag erntete ich viele Likes, Jubelzurufe, Glückwünsche und lustige Smileys. Nur ganz unten da stand noch eine andere Nachricht, eine Botschaft: „Wir freuen uns mit Dir liebe Tochter. Aber bitte schau auch auf deine Gesundheit. Mach ausreichend Bewegung und iss bitte viel Gemüse. Deine Eltern“.
Zuerst wollte ich reagieren, wie ich immer reagiert habe die letzten drei Jahrzehnte, wenn meine Oldies pädagogisch Wertvolles von sich gaben. Ich wollte ihnen erbost mitteilen, dass ich längst erwachsen bin und sie sich Anmerkungen dieser Art schlichtweg sparen können. Aber eine innere Stimme hielt mich zurück.
Seit einiger Zeit sehe ich nämlich mit etwas Sorge, wie ihre Falten im Gesicht tiefer und tiefer werden.
Am 02.04.2013 zuerst auf der Plattform Fisch + Fleisch erschienen.
Monika Krampl meint
So lange/zu lange habe ich mich gewehrt, weiter Kind zu sein …
Was für eine kluge, und ich möchte sagen auch weise, innere Stimme. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich viele heiße Tränen geweint über die Zurückweisungen die sie von mir bei ihren Ratschlägen erhalten hat. Heute weiß ich, dass sie mit dem sich um mich sorgen, ihre Liebe ausgedrückt hat und würde mich über so manchen Satz, der mich nervte, sehr freuen!
Ich bin 65 Jahre alt und in meinen Trauerphasen taucht immer wieder meine kleinkindliche Stimme auf, die sagt: „Ich möchte meine Mama wieder haben“ …..
Sonja Schiff meint
jetzt muss ich doch glatt weinen, liebe monika…
Monika Krampl meint
<3