Gestern las ich einen schönen Artikel mit dem Titel „Jugenderinnerungen“. Es ging um die vielen großartigen Dinge, die wir, die wir heute rund 50 Jahre alt sind, so erlebt haben, etwa um die Sendung „Spotlight“ oder um die Musik von Led Zeppelin und David Bowie. Der Artikel endet mit dem Satz: Es waren wunderbare Jahre!
In Erinnerungen zu schwelgen fühlt sich gut an. In seinen Erinnerungen zu graben ist aber auch ein Zeichen dafür, dass man dabei ist, älter zu werden. Kein 25 Jähriger kramt in der Mottenkiste und ruft: „Mei woa des scheeee“.
Bei mir hat es jedenfalls letztes Jahr angefangen. Etwa ein Monat vor meinem 50.Geburtstag fing ich an mein altes Leben zu sortieren. Alle Bücher, die ich je gelesen hatte und die reihenweise in meinen Bücherregalen standen, wurden Stück für Stück in die Hand genommen. Bei jedem einzelnen Buch hab ich mich gefragt, ob dieses in meinem Leben wichtig war, ob ich daraus etwas gelernt habe, ob es mich berührt hat, ob es mir Antworten auf Fragen gegeben hat oder ob ich es einfach nur gut in Erinnerung habe. War mir ein in die Hand genommenes Buch unbekannt, kam es auf den Stapel „Zum Secondhandladen“. Die anderen Bücher wurden, eines ums andere, abgestaubt und kurz durchgeblättert, danach wieder liebevoll eingeräumt.
Genau gleich bin ich dann verfahren mit meiner Plattensammlung und mit den Kassetten (Stellt euch vor, ich hab noch welche!! Sogar mit Kassettenrekorder!). Danach hab ich meine Fotokiste durchforstet, erst die vielen Reisefotos, dann meine persönlichen Fotos und dann hab ich mir noch das Fotoalbum meiner Eltern gekrallt, um mir meine Kinderfotos einzuscannen und die alten Fotos meiner Eltern, ihr Hochzeitsfoto etwa oder das Foto von ihrem ersten Vespaausflug. Ganz zum Schluss hab ich das Foto meiner Oma eingescannt und dabei auch ein paar Tränen verdrückt.
In Erinnerungen zu schwelgen bedeutet sein Leben zu reflektieren und es zu verarbeiten. Während ich so in meiner persönlichen Mottenkiste kramte, erinnerte ich mich an meine erste Patientin, die mir als junge Krankenschwester begegnet war. Sie war 1891 geboren, bei unserer Begegnung unvorstellbare 100 Jahre alt. Sie lebte in einem Seniorenheim und hatte schon längere Zeit nicht mehr ihr Zimmer verlassen. Jung und überengagiert wie ich war, wollte ich sie überreden doch an Aktivitäten des Seniorenheims teilzunehmen, etwa am Seniorentanz oder den Bastelrunden. Nachdem sie über Tage jedes Angebot von mir ablehnte, rief ich enttäuscht: „Aber was machen Sie den ganzen Tag hier in ihrem Zimmer? In die Luft starren?“
Daraufhin lächelte die alte Dame und griff nach einer Kiste, die neben ihrem Sofa auf einem kleinen Schubladkasten stand. Sie öffnete bedeutungsvoll den Deckel der Kiste, sah mich an und fragte: „Sie wollen wissen, was ich den ganzen Tag hier drin mache?“ Mit diesen Worten zog sie einen Stapel alter, vergriffener Fotos hervor und legte sie auf den Tisch. Dann erklärte sie, mit direktem Blick in meine Augen: „Wissen Sie, ich werde bald sterben“, und fügte mit sanfter Stimme hinzu: „Ich erinnere mich. An Gutes und an Schlechtes. Und ich frage mich, was ich richtig gemacht habe im Leben, wofür ich mich schämen muss und wofür noch bei jemanden bedanken.“
Horst Konrad meint
Liebe Sonja,
Du sollst nicht zu oft zurückblicken, weil man da leicht stolpern kann. Blick lieber nach vorn, die Zukunft muss man lenken. Alles andere geht ab einem bestimmten Punkt ganz von alleine.
In Liebe Deine Eltern.