Es ist der 16. Februar 2018, fünf Uhr abends und vor genau einem Monat hat sich mein Leben auf das Existentielle zugespitzt. Am 16. Jänner 2018 um fünf Uhr abends bin ich nach 8 Stunden aus der Narkose erwacht, bekam die Nachricht, mein Tumor wäre bösartig gewesen und schlotterte daraufhin, im Krankenbett liegend, vor Angst. Die diensthabende Krankenschwester des Aufwachraums trug diesem traumatischen Ereignis Rechnung, sie trug in die Pflegedokumentation ein: „Die Patientin ist ein wenig aufgeregt.“
Vor diesem dramatischen Abend lagen 5 Monate mit dauerhaften und wandernden Schmerzen in Muskeln, Gewebe und Haut, eine erfolglose Untersuchung nach der anderen auf der Suche nach den Ursachen, unzählige gute Empfehlungen zum Heilpraktiker oder Ganzheitsmediziner zu gehen und der ein oder andere Hinweis darauf, meine Schmerzen wären sicher „psychisch“. Am Ende war es ein Ovarialtumor, der zum Ovarialkarzinom wurde, sich letztlich aber dann als gutartiger Borderline-Tumor mit Krebszellen-Einsprenkelungen entpuppte.
Was für ein Glück! Was für anstrengende, zehrende, emotionale, existenzbedrohende sechs Monate mit Happy End. Zeit noch einmal zurück zu blicken und mich zu fragen, was habe ich eigentlich auch dieser Zeit mitgenommen? Aus Krisen wächst man bekanntlich, Krisen entwickeln uns weiter, sie verändern uns und unser Leben- Krisen stellen oft, rückblickend betrachtet, Meilensteine im Leben dar.
Was also nehme ich mit aus den vergangenen 6 Monaten? Was hat sich verändert? Wo wird es Veränderungen in meinem Leben geben? Oder bleibt alles wie es war?
Anders als in früheren Lebenskrisen (ja, da gab es bereits drei davon!) kam es dieses Mal zu keinen großen Umbrüchen. Die Lebenskrisen vorher, etwa meine Scheidung, haben mich radikal verändert, teilweise haben sie zu großen Lebensveränderungen geführt. Dieses Mal kam es eher zu Bestätigung und zu einer Art „Feintuning“.
Bestätigt wurde ich darin, dass das Leben nicht nur aus Arbeit bestehen soll, sondern das Leben selbst gelebt werden will. Ich habe in den letzten Jahren schon begonnen konsequent Projekte abzugeben, die zwar Geld bringen, mich aber nicht mehr wirklich interessieren. Das bedeutete auf der einen Seite finanzielle Einbußen und durchaus auch existentielle Ängste ( ich bin selbständig!), auf der anderen Seite gewann ich aber Freiheit und mehr Zeit für mich und die Dinge, die mir wichtig sind. Der Tumor und die Zeit der Schmerzen hat mich darin bestätigt diesen Weg weiter zu gehen. Weniger Projekte, mehr Zeit fürs Leben. Projekte ausschließlich mit Menschen, die ich mag und zu Themen, die mir wichtig sind. Alles andere lass ich bleiben.
Perfektionismus ade! So könnte die größte Erkenntnis aus den vergangenen 6 Monaten zitiert werden. Ich gehörte bis zum Sommer letzten Jahres zu den verbissenen Perfektionistinnen. Ob Job, ob Haushalt, ob Gartenarbeit, ich konnte mich in Kleinigkeiten verbeißen und ich beendet niemals meine Arbeit, bevor sie nicht perfekt war. Das habe ich nie als belastend erlebt, auch wenn mein Mann mich da oft versuchte rauszuholen oder meinte „Jetzt bitte entspann dich doch einmal!“ Nein belastend war es nicht, aber im Nachhinein sehe ich schon, dass enorm viel Energie verpufft ist in Unwichtigkeiten. Der Kies vom Kiesweg lag in der Wiese, weil die Hunde mal wieder ganze Arbeit geleistet hatten. Sonja Schiff kniete tagsdrauf in der Wiese und klaubte schimpfend und verbissen den Kies aus der Wiese. Haltbarkeitsdatum: 2 Tage. Nur ein Beispiel von vielen. Dieser Wahnsinn hat ein Ende. Okay, fast ein Ende, ganz werde ich es wohl nicht lassen können. Aber ich stelle fest, es tut gar nicht weh, wenn der Kies in der Wiese rumliegt! Die Blumen blühen trotzdem, die Vögel zwitschern trotzdem und ich kann viel mehr Zeit damit verbringen Sonne und Garten zu genießen. Das gilt übrigens auch für den Beruf. Ich muss nicht 130% erbringen. 100% sind auch genug und manchmal reichen sogar 80%. Also Perfektionismus ade. Schritt für Schritt. Da werde ich mich in den nächsten Wochen und Monaten darin üben. Versprochen.
Was habe ich noch gelernt? Dass ich das Leben nicht planen kann, ist eine weitere Erkenntnis. Klar, wusste ich vorher auch schon. Das lehrt dich jede Lebenskrise. Aber dieses Mal war diese erteilte Lehre eindrücklicher, weil existentiell bedrohlich. Ich hatte kürzlich erst begonnen darüber nachzudenken, wie ich meinen Übergang in den Ruhestand gestalten möchte. Es sind noch 7 Jahre hin, aber man kann ja nicht früh genug zu planen beginnen. Doch plötzlich waren all diese Planungen obsolet. Plötzlich wusste ich nicht mehr, ob und wieviel Zeit mir noch zum Leben bleibt. Das führte jede Planung ad absurdum. Ich habe mir vorgenommen private Planungen in Zukunft weitgehend fallen zu lassen, dazu gehören auch alle Zukunftsängste oder Sorgen. Die Zukunft kommt, das ist gewiss, auch von alleine. Jetzt leben ist angesagt. Im Moment leben. Heute. Basta.
Überhaupt, die Frage, wieviel Zeit mir noch bleibt! Für das Leben und für die Menschen in meinem Leben. Wieviel Zeit habe ich noch mit meinem Partner? Mit meinen Eltern? Niemand weiß das! Mein Partner war DIE tragende Säule in den letzten 6 Monaten. Wie kostbar doch der Mensch an meiner Seite und die Zeit mit ihm ist! Zeit mit meinen Eltern, Zeit mit Freunden! Hier wurde meine Wahrnehmung geschärft und ich bin mir sicher, da haben sich Prioritäten deutlich neu geordnet.
Außerdem, ich habe davon schon an anderer Stelle berichtet: Mit der Diagnose Ovarialtumor und meiner existentiellen Angst, saß ich plötzlich im gleichen Boot mit Mohammed, meinem afghanischen Sohn, einem Asylwerber, der mit großer Angst auf seinen zweiten Bescheid wartet. Seine Existenzangst und meine Existenzangst, ebenbürtig, das wurde mir schlagartig bewusst. Mit dem großen Unterschied, für mich wäre selbstverständlich jede Hilfe aktiviert worden, von Operation bis teurer Chemotherapie. Um mein Leben hätte viele Menschen gekämpft. Mohammed aber gilt mit seinem Wunsch nach Überleben als „Schmarotzer“, er wird in unserer Gesellschaft abgewertet, verhöhnt, ihm droht die Abschiebung. Ich hab mir geschworen, dass ich alles dafür tun werde, damit Mohammed bleiben kann. Weil jedes Leben gleich viel wert ist und jeder Mensch ein Recht auf Leben hat.
Mit diesem Bericht über mein Lernen in der Lebenskrise, beende ich den Blick zurück auf die letzten 6 Monate. Ich nehme mit, dass ich enorme Kräfte aufbringen kann, wenn es um mein Leben geht. Ich habe die Fähigkeiten den Weg aus der Verzweiflung zurück in die Zuversicht zu finden. Ich kann Schmerz aushalten, Tiefpunkte überwinden und selbst in schweren Zeiten, Momente der Freude finden.
Jetzt aber richte ich wieder meinen Blick ins Jetzt und in die Zukunft. Voll Demut und Dankbarkeit.
Platz-nehmerin meint
Mir fällt gerade wieder der Spruch ein, wenn Du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl ihm von Deinen Plänen. Wenn man Lebenskrisen ernst nimmt (im Sinne von reflektieren, bearbeiten und akzeptieren), dann verändern sie. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Wenn man Lebenskrisen ernst nimmt, dann macht man nicht einfach so weiter wie vorher.
Ich freue mich von Herzen für Dich, dass Deine Lebenskrise diesmal ein Happy-End hat. Alles, alles Gute liebe Sonja
Sonja meint
Danke dir!
Christa meint
Wie gut das tut, deine ansteckende Lebensfreude.
Mohammed und dir wünsche ich, dass auch seine Lebenskrise ein glückliches Ende findet.